Internationaler Haftbefehl gegen PutinAbschreckung durch Stigmatisierung

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Wladimir Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa sprechen über die Zwangsadoption ukrainischer Kinder (16.2.2023). Screenshot von der Internetpräzenz des russischen Präsidialamtes.

Die Beschuldigten: Putin und Lwowa-Belowa sprechen über die Zwangsadoptionen. Screenshot von der Kreml-Internetpräsenz.

Kann der Internationale Strafgerichtshof überhaupt gegen ein Staatsoberhaupt vorgehen? Und behindern die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Wladimir Putin nicht mögliche Friedensgespräche? 

Das hat gewirkt. Jedes Land, das Wladimir Putin festnehme, müsse mit einem russischen Angriff auf seine Hauptstadt rechnen, schäumt Putins Chefpropagandistin Margarita Simonjan. Unterstützer der Ukraine wiederum verbreiten ein Internet-Meme, das die Anklagebank im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zeigt – aber mit den einmontierten Köpfen des russischen Präsidenten und seiner Konsorten. Japanische Shiba-Hunde, die Maskottchen der proukrainischen „Fellas“, halten in der Uniform von US-Militärpolizisten Wache. Führt der Haftbefehl aus Den Haag für Wladimir Putin zu einem neuen Nürnberg?

Plant der Westen in Den Haag Siegerjustiz?

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) wurde 1998 durch einen internationalen Vertrag, das Statut von Rom, begründet. Das Statut ist zwar unverkennbar von Rechtsvorstellungen geprägt, wie sie erstmals in Nürnberg zur Geltung kamen – man denke an Begriffe wie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Verbrechen der Aggression“. Anders als der Nürnberger Gerichtshof ist der IStGH aber kein ad-hoc-Tribunal, wie es damals von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs zur Ahndung von NS-Verbrechen eingerichtet wurde. Ad hoc hatte die internationale Gemeinschaft später Gerichtshöfe zur Verfolgung von Verbrechen in Ruanda und im früheren Jugoslawien gebildet. Der IStGH ist dagegen auf Dauer angelegt, getragen von 123 Staaten weltweit. Darunter sind westliche Länder (unter anderem alle EU-Staaten), aber auch Staaten des sogenannten globalen Südens – vor allem aus Lateinamerika und Afrika. Die Ukraine ist nicht Vertragsstaat, erkennt die Zuständigkeit des Gerichts aber an. Nur deshalb kann er wegen Verbrechen auf ukrainischem Boden ermitteln – auch gegen Beschuldigte aus Russland, das kein Vertragsstaat ist. Ebenso wenig wie etwa China, Indien, Israel, die Türkei – und die USA.

Warum Ermittlungen wegen Kinder-Deportation?

Washington hat die Errichtung des Gerichtshofs offen bekämpft und sich 2002 unter George W. Bush die militärische Befreiung von US-Amtsträgern in IStGH-Haft vorbehalten. US-Präsident Joe Biden reagierte denn auch doppelbödig: Der Haftbefehl sei „ein sehr starkes Signal", dennoch werde der Gerichtshof von den USA nicht anerkannt. US-Sicherheitskräfte werden im Gegensatz zur Fantasie der „Fellas“ gewiss nicht in Den Haag zu sehen sein.

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Massenmord, Folter, Vergewaltigungen – die Liste der russischen Verbrechen auf ukrainischem Boden ist lang. Der Haftbefehl des IStGH gegen „Herrn Wladimir Wladimirowitsch Putin, geboren am 7. Oktober 1952“ und „Frau Maria Aleksejewna Lwowa-Belowa, geboren am 25. Oktober 1984“ bezieht sich aber nur auf einen Tatkomplex: die Verschleppung ukrainischer Kinder.

Der IStGH kann Regierungsvertretern und Militärführern nicht einfach jedes Verbrechen ihrer Untergebenen zur Last legen, sondern muss nach den Artikeln 25 bis 28 des Römischen Statuts die Verantwortungskette belegen. Diese Arbeit haben Putin und Lwowa-Belowa, die den zynischen Titel der einer Kinderrechtskommissarin trägt, dem IStGH abgenommen: In einer vom russischen TV am 16. Februar ausgestrahlten Unterhaltung lobt Putin seine Gesprächspartnerin dafür, dass ihre Organisation Kinder aus besetzten ukrainischen Gebieten an russische Interessenten vermittle, und das sogar schon seit neun Jahren, also seit Krim-Okkupation und Donbass-Krieg 2014. Lwowa-Belowa erwähnt Tausende Fälle und erklärt, ausdrücklich dank Putin auch selbst einen Jungen aus Mariupol adoptiert zu haben.

Der Haager Chefankläger Karim Khan will auch wegen anderer Verbrechen tätig werden. Exemplarisch nannte er das Massaker von Butscha. Dass der Haftbefehl wegen der Kinder-Verschleppung ausgestellt wurde, schließt eine solche Erweiterung nicht aus.

Ist Putin nicht durch seine Immunität geschützt?

Im Völkerrecht gibt es diverse Formen der Immunität, also des Schutzes vor Strafverfolgung: für Diplomaten, für Staatsoberhäupter, aber auch für ganze Staaten. Von Liechtenstein bis China sind alle Staaten gleichberechtigt, deshalb darf kein Staat über andere Staaten und ihre Vertreter zu Gericht sitzen. Aus Sicht der Haager Vertragsstaaten gilt diese Einschränkung für den IStGH aber nicht. Er ist kein Gericht einzelner Staaten, sondern selbst ein Subjekt des Völkerrechts. Und er ahndet nur völkerrechtliche Verbrechen: Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das „Verbrechen der Aggression“. „Solche Straftaten berühren – wie es in der Präambel des Römischen Statuts heißt – die internationale Gemeinschaft als Ganzes“, schreibt der Völkerrechtsexperte Helmut Kreicker.

In den Grenzen Russlands sind Putin und Lwowa-Belowa natürlich sicher, aber sie wären es auch in China, in Indien oder in der Türkei, die ja immer wieder als Plattform für russisch-ukrainische Gespräche dient. IStGH-Mitgliedsländer müssten Lwowa-Belowa dagegen festnehmen – und auch Putin, ungeachtet seines Status. Allerdings macht Artikel 98 des Statuts von Rom eine wichtige Einschränkung: Der Gerichtshof darf von keinem Mitgliedsstaat verlangen, durch so eine Festnahme „entgegen seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu handeln“. Eine Generalentschuldigung: Jeder Staat kann sich darauf hinausreden, seine Behörden dürften nicht gegen Putin vorgehen. Juristisch hält Kreicker dies für „unglücklich formuliert“, politisch ist es opportun: Am Ende überwiegt das Interesse an möglichen Friedensgesprächen das an einer Strafverfolgung. Ungeachtet dessen aber würde jede Putin-Reise in einen IStGH-Vertragsstaat peinliche Klärungen voraussetzen. Die Anwesenheit eines international gesuchten mutmaßlichen Kriegsverbrechers hätte alles Zeug zum Skandal.

Erschwert das Haager Vorgehen Friedensgespräche?

Wie ernst Moskau das Haager Vorgehen nimmt, zeigt eine Intervention von Marija Sacharowa, der Sprecherin des russischen Außenministeriums: Als Voraussetzung für Friedensgespräche verlangt sie nun neben der Aufhebung von Sanktionen die Einstellung internationaler Ermittlungen. Das ist illusorisch – der Haager Gerichtshof ist von staatlichen Weisungen unabhängig –, aber es bestätigt eine alte Befürchtung: Der Druck der Strafverfolgung kann die Lösung von Konflikten erschweren, denn man kann Kriegsherren nun nicht mehr so einfach goldene Brücken etwa in ein sicheres Exil bauen.

Auch deswegen hätte der Gerichtshof eigentlich die Möglichkeit nutzen können, den Haftbefehl geheim zu halten. Ausdrücklich hat der IStGH begründet, warum er davon absieht: Die Veröffentlichung könne zur Verhinderung weiterer Verbrechen beitragen. Schon Ende November sprach Simonjan in einer Talkshow des Moderators Wladimir Solowjow von der Angst vor der Anklagebank in Den Haag. Entsprechend abschreckend, das hoffen die Haager Juristen, wirkt die öffentliche Stigmatisierung Putins und seiner Komplizin – gerade auch für Beamte, die auf ihre Kollegin Lwowa-Belowa blicken

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