Kämpfe in der UkraineImmer von Neuem in den „Fleischwolf“ – Analyse zur Lage

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Smoke raises after shelling in Soledar, Donetsk region, Ukraine, Wednesday, Jan. 11, 2023. (AP Photo/Libkos)

Rauch über der Stadt Soledar in der Ukraine

Dramatische Kämpfe um eine ukrainische Kleinstadt: Was bedeuten die Kämpfe um Soledar? Und warum wechselt Russland schon wieder den Oberkommandieren im Angriffskrieg gegen die Ukraine aus? Eine Analyse.

Während Russland im Angriffskrieg gegen die Ukraine seinen Oberkommandierenden auswechselt, verbreitet der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Zuversicht: „Die Front im Donezk-Gebiet hält“, sagte er am Mittwochabend. „Die Kämpfe gehen weiter, und wir unternehmen alle, um die ukrainische Verteidigung zu stärken.“ Damit bezog er sich vor allem auf die schweren Kämpfe um die für ihre Salzbergwerke berühmte Kleinstadt Soledar bei Bachmut.

Wie ist die Lage bei Soledar?

„Die russischen Streitkräfte haben Soledar noch nicht vollständig eingenommen, auch wenn sie vorgedrungen sind, und auch eine Einnahme von Soledar würde ihnen wahrscheinlich nicht die Eroberung von Bachmut ermöglichen“ – so fasst das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) den Kenntnisstand zusammen, der sich aus den widerstreitenden offiziellen Darstellungen, Äußerungen in sozialen Medien, Fotos und Drohnenaufnahmen ergibt.

Noch rund 500 ukrainische Zivilisten sind in der Stadt, die vor dem Krieg 11 000 Einwohner hatte. Die ukrainische Armee sieht sich nach eigenen Angaben nicht imstande, sie in Sicherheit zu bringen, weil die Zufahrtswege nicht mehr sicher zu befahren sind. So angespannt ist also die Lage, auch wenn Soledar nicht voll eingekesselt ist. Von der russischen Söldnergruppe Wagner verbreitete Fotos zeigen ihre Kämpfer im Stollen einer Salzmine, es ist aber unklar, wo sie aufgenommen wurden. Am Dienstag kündigte Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin noch großspurig an, er werde am Mittwoch mitteilen, wie viele Ukrainer man in Soledar gefangenengenommen habe. Davon war dann nichts zu hören. Die Kämpfe, das bekräftigt die ukrainische Seite immer wieder, halten an.

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Warum ist Soledar so heftig umkämpft?

Die Wagner-Miliz will Soledar besetzen, weil sie damit die Zufahrt in die größere Nachbarstadt Bachmut vom Norden her abschneiden kann. Abgesehen davon steht Prigoschin im Verdacht, er wolle die lukrativen Salz- und Gipsbergwerke der Stadt unter seine Kontrolle bringen. Er selbst sagt dagegen, ihn interessiere der militärische Nutzen des 200 Kilometer langen Stollensystems unter der Stadt.

So oder so: Letzten Endes geht es um Bachmut. Die Frage muss also lauten, warum seit einem halben Jahr mit schweren Verlusten auf beiden Seiten um diese 70 000-Einwohner-Stadt gekämpft wird. „Bachmut bietet nicht viel“, hat der US-Analyst Michael Kofman im Podcast „War on the rocks“ gesagt. Taktisch möge die Stadt relevant erscheinen, aber, so Kofman: „Strategisch ist sie eine Brücke ins Nichts.“ Das sah im Sommer noch anders aus: Damals kontrollierte Russland auch wichtige Städte weiter im Norden, nämlich Isjum und Lyman. Die Russen standen sozusagen im Halbkreis um die ukrainischen Donbass-Truppen herum und hätten versuchen können, sie in die Zange zu nehmen. Nach dem ukrainischen Rückeroberung von Isjum und Lyman ist so eine Zangenbewegung nicht mehr möglich. Bachmut ist zwar ein wichtiges Glied der bisherigen ukrainischen Verteidigungslinie im Bezirk Donezk, aber die Ukrainer haben vorsichtshalber längst neue Verteidigungsstellungen weiter im Landesinneren errichtet.

Bachmut ist zum Symbol geworden

In sozialen Medien sprechen Militärs nur noch vom „Fleischwolf“ Bachmut. Für beide Seiten ist die Stadt zum Symbol geworden. Die russische Fixierung darauf ist nicht ohne die Person Prigoschin zu erklären. Immer wieder behauptet der Söldnerchef, dass die Erfolge in Bachmut und Soledar allein die seinen seien, obwohl selbstverständlich auch reguläre russische Truppen in der Region kämpfen. Mit einem Sieg hier will Prigoschin die Unentbehrlichkeit seiner – in Russland nach wie vor eigentlich illegalen – Privatarmee demonstrieren, die nach US-Erkenntnissen inzwischen zu vier Fünfteln aus Ex-Häftlingen bestehen dürfte, die er in russischen Straflagern rekrutiert hat. Diese Leute, schätzungsweise 40 000, werden vorangeschickt, die professionell ausgebildeten Söldner geschont. Drohnenaufnahmen zeigen mit Leichen von Wagner-Söldnern übersäte Gebiete, angeblich lässt man Verwundete einfach liegen und sterben. Ihr Leben zählt nichts, aber durch ihren massenhaften Ansturm hofft Prigoschin auf einen für ihn politisch wichtigen Erfolg.

Derzeit hat er seine Söldner in den Kampf um Soledar geworfen. Damit ist es in Bachmut etwas ruhiger geworden, und die ukrainische Armee sieht nach eigenen Angaben noch Chancen auf Evakuierung für die noch 8000 Zivilisten in der Stadt. Das könnte erklären, warum man die Stellungen in Soledar so lange wie möglich zu halten versucht.

Aber warum schickt auch die Ukraine ihre Soldaten immer wieder in den „Fleischwolf“ Bachmut? Der ukrainische Analyst Serhij Grabsky hat bei „Canada Today“ eine brutale Kalkulation aufgemacht: Ja, die Ukraine verliere eine halbe Kompanie, 30 bis 50 Mann, am Tag. Aber die russischen Verluste3 seien vier- bis fünfmal höher. Wenn Grabsky – trotz der hohen Risiken dieser Strategie für die Ukraine selbst – recht behält, dann würden die Russen vor Bachmut die Fehler wiederholen, die sie in Mariupol und Sjewjerodonezk begangen haben: Am Ende haben sie die Städte zwar erobert, aber es waren Pyrrhussiege, von denen sich ihre Einheiten monatelang nicht erholten. Was dann den ukrainischen Blitzsieg im Gebiet Charkiw ermöglichte. 

Wie ist die Lage an anderen Frontabschnitten?

Der Fall von Sjewjerodonezk im Sommer ist noch in anderer Hinsicht ein interessantes Beispiel: Während die Welt damals darauf blickte, wie russische Artillerie die Stadt nach und nach einebnete, bis Panzer und Fußtruppen ins Zentrum verrückten konnten, bereitete die Ukraine systematisch ihre Offensive bei Cherson vor. Überraschte die Russen dann im September mit ihrem Vorpreschen im Gebiet Charkiw, kämpfte bei Cherson aber konsequent weiter. ISW-Analysten Karolina Hird geht sogar so weit, das lange Festhalten an Sjewjerodonezk als Ablenkungsmanöver zu sehen. Das mag eine sehr zugespitzte Analyse sein. Aber an anderen Frontabschnitten sieht es für die Ukraine derzeit jedenfalls besser aus als bei Bachmut.

Am Donnerstagmorgen meldete der ukrainische Generalstab einen zurückgeschlagenen russischen Angriff bei Kreminna – bemerkenswert, denn die Kleinstadt im Bezirk Luhansk, rund 70 Kilometer nördlich von Bachmut, war bisher doch in russischer Hand. Die Meldung bedeutet nicht, dass die Ukraine bereits das Stadtzentrum kontrolliert, aber offenbar ist man weit vorgerückt. Das wäre eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einer Rückeroberung von Sjewjerodonezk. Und es gibt weitere Perspektiven: Das Verkehrsnetz im Norden des Bezirks Luhansk ist weitmaschig. Mit der Kontrolle über Kreminna hätten die Ukraine bereits eine der drei verbliebenen Nord-Süd-Nachschubrouten des russischen Militärs endgültig gekappt. Je weiter die Ukrainer in der Region vorrücken, desto größer sind ihre Chancen, auch den Militärverkehr auf den übrigen Routen nachhaltig zu stören – bis hin zu einer möglichen Attacke auf Starobilsk, einen zentralen Verkehrsknoten der Region.

Auffällig still ist es um die Militäroperationen im Süden des Landes. Immer wieder gibt es ukrainische Kommandoaktionen iin der Dnipro-Mündung, auf Flussinseln und der Landzunge Kinburn, ebenso wie Artillerie- und Drohnenangriffe auf russische Stellungen in der Region. Bemerkenswert ist die Aussage des ukrainischen Brigadegenerals Oleksandr Tarnawskij, die russischen Truppen verfügten an der Taurien-Front, also in den Bezirken Cherson und Saporischschja rund um die drei  Übergänge zur Krim, über kein sicheres Hinterland mehr. Was deutet sich hier an?

Klar ist: Seit der Okkupation von 2014 hat Russland die Krim mit Waffen vollgepumpt, die Halbinsel war eine zentrale Logistik-Drehscheibe für den russischen Überfall im Februar 2022. Wenn es der Ukraine im Frühjahr gelingen sollte, Straßen und Bahnstrecken auf die Krim für Russland unpassierbar zu machen und große Teile der Halbinsel in den Einwirkungsbereich ihrer Artillerie zu bekommen, dann wäre die russische Invasion endgültig gescheitert.

Warum wechselt Russland den Kommandanten?

Umgekehrt dürfte auch Russland im Frühjahr die Entscheidung suchen. Von den angeblich 300 000 im Herbst mobilisierten Männern sind schätzungsweise 150 000 noch nicht zum Fronteinsatz gekommen, zudem verdichten sich Hinweise darauf, dass Russland möglicherweise erneut eine größere Zahl von Reservisten einziehen könnte. Beide Seiten dürften sich auf große Offensiven vorbereiten – und im Vorfeld hat die russische Seite ihre Führung schon wieder neu aufgestellt: Nun führt Generalstabschef Waleri Gerassimow persönlich das Kommando. Sergej Surowikin, erst im Oktober zum Oberbefehlshaber der angeblicher „Spezialoperation“ ernannt, ist nur noch einer seiner drei Stellvertreter.

Was soll das? Gerassimow war es doch, der mit seinem Generalstab für die katastrophale Fehlplanung des Einmarschs im Februar verantwortlich war. Will Präsident Wladimir Putin ihm die Verantwortung für eine sich abzeichnende Niederlage zuweisen, um ihn ablösen zu können? Kaum plausibel. Putin kann in die Wüste schicken, wen er will, und Gerassimow ist ohnehin 67 und damit eindeutig im Pensionsalter. Das ISW vermutet, dass Putin sich schlicht erneut Illusionen hingibt und glaubt, der Sieg rücke näher, wenn nur sein höchster Militärführer persönlich eingreift. Allerdings galt Surowikin als der Mann Prigoschins in der Militärführung, Ist seine Zurücksetzung auch ein Signal an den Wagner-Chef?

Wenige Tage zuvor gab es schon eine weitere bemerkenswerte Entscheidung: Drei-Sterne-General Alexander Lapin, von Wagner-nahen Kreisen und vom tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow im Herbst aus dem Kommando der Westgruppe der russischen Streitkräfte herausgemobbt, kommt als Heeres-Stabschef zu neuen Ehren. Wie werden Wagner, Kadyrow und die ihnen hörigen Militärblogger auf diese Personalien reagieren?

Eine Zeit lang hatte Putin offenbar gehofft, die nationalistische Gegenöffentlichkeit unter seine Kontrolle bekommen. Das hat er, so das ISW, jetzt wohl aufgegeben – auch wenn der Blog „Rybar“ in einer ersten Reaktion brav das angebliche Fehlleistungen des früher hochgejubelten Surowikin aufzählte. Und auch wenn der besonders extreme Ex-Geheimdienstler Igor Girkin alias Strelkow, der mittlerweile Putins Sturz fordert und ihm ein Schicksal wie dem ermordeten libyschen Ex-Diktator Muammar al-Gaddafi androht, eine Einzelstimme bleibt. Aber wie geht es weiter? Mit einem angeschlagenen Generalstabschef und einem ebenso geschwächten Verteidigungsminister Sergej Schoigu an seiner Seite steht Putin dem rechtskräftig verurteilten Berufsverbrecher Prigoschin gegenüber, der – ebenso wie Kadyrow einen Staat im Staate betreibt.

Putin versucht sich offenbar präsidial als der Mann über den Parteien zu zeigen, über den etablierten Militärs hier, Prigoschiin und Kadyrow da. Aber wer wird sich am Ende durchsetzen, wer hat langfristig das Sagen? Für einen möglichen Weg hinaus aus dem Krieg ist diese Frage entscheidend.

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