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Nida-Rümelin über die Zeit nach dem Ukraine-Krieg„Russland wird auf der Landkarte bleiben"

Lesezeit 6 Minuten

Julian NIda-Rümelin

Schwere Kämpfe, Luftangriffe, immer neue Leichenfunde – zur Zeit scheint selbst eine Waffenruhe im Ukraine-Krieg schwer erreichbar. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin aber meint: Wir müssen gerade jetzt schon über die Friedensordnung nach dem Krieg nachdenken. Ein Interview.

Glückwunsch zu Ihrem Mut: Mitten im Ukraine-Krieg veröffentlichen Sie mit Kolleginnen und Kollegen ein Buch über Perspektiven nach diesem Krieg. Aber wie erreichen wir das überhaupt – ein Kriegsende, eine Zeit nach dem Krieg?

Das Vorbild liefern die USA. Das wird Sie vielleicht ein bisschen wundern, aber einer der Mitautoren, der Völkerrechtler Mathias Kumm, schildert, wie die USA sich im Ersten und im Zweiten Weltkrieg verhalten haben: Die Entscheidung für ihren Kriegseintritt haben sie mit einer Vision der Friedenssicherung nach dem Krieg verbunden. Man muss wissen, was man will. Die Nato ist nicht am Ukraine-Krieg beteiligt, aber die Ukraine ist stark von der Unterstützung des Westens abhängig. Wir können uns nicht vor der Verantwortung drücken.

Der Erste und Zweite Weltkrieg gingen aber mit einem Sieg der USA und der von ihnen unterstützen Staaten zu Ende. Ist das ein Szenario für die Ukraine?

Ein Sieg im Sinne der Rückeroberung der Krim und der Separatistengebiete im Osten ist schlicht unvorstellbar. So ein Versuch würde zu einer massiven Eskalation führen – und Russland verfügt nach der Einschätzung von Militärexperten wie Erich Vad, langjähriger Militärberater von Kanzlerin Merkel, ein weiterer Mitautor des Buches, über Eskalationsdominanz, hat bislang keine Generalmobilmachung erlassen und seine Luftwaffe und Marine nur eingeschränkt eingesetzt.

Aber es geht für die Ukraine doch um viel mehr, um kürzlich von Russland annektierte Gebiete. Sollten wir die Ukraine unter Druck setzen, diese Gebiete aufzugeben und ihre Bevölkerung einer brutalen Besatzungsherrschaft zu überlassen?

Das sind wichtige Fragen, aber im Buch geht es um andere: Welche Weltordnung streben wir nach dem hoffentlichen Ende des Krieges an? Henry Kissinger hat im August gesagt, wir stünden am Rande eines Krieges mit Russland und China, wir seien für die Ursachen teils selbst verantwortlich und müssten uns fragen, wohin das führen soll.

Landen wir wieder im Kalten Krieg?

Und wohin könnte es führen?

Ein Szenario wäre: Wir fallen zurück in eine Phase des Kalten Kriegs. Ein Block mit dem Zentrum Russland und China, einer mit Nordamerika und dem westlichen Europa. Der Eiserne Vorhang ginge dann möglicherweise nicht mehr wie im Kalten Krieg durch Deutschland, sondern durch die Ukraine. China wird die USA wirtschaftlich irgendwann überholen, Russland als die größte Nuklearmacht der Welt würde in die Arme Chinas getrieben. Länder wie Indien, Indonesien und Brasilien würden zwischen diesen Blöcken lavieren. Wollen wir das? Sympathischer wäre mir schon das zweite, eine ökonomisch moderierte Bipolarität. Dann käme es wenigstens nicht zum Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen zu China. Denn wirtschaftliche Verflechtung schafft Abhängigkeiten. Das treibt die Kosten kriegerischer Auseinandersetzungen hoch: Keine Garantie für Frieden, aber eine Verbesserung der Chancen für Frieden.

Da müssen wir nur alle hoffen, dass das auch beim Taiwan-Konflikt klappt.

Genau. Der ist hoch riskant, die völkerrechtliche Lage ist allerdings anders als bei der Ukraine. Immerhin hat UN-Generalversammlung 1971 ja der Volksrepublik China die Gesamtvertretung zuerkannt, auch die westlichen Staaten erkennen das implizit an. Auch das ist hochproblematisch, weil Taiwan immerhin eine Demokratie ist. Man kann nur hoffen, dass der Konflikt nicht weiter eskaliert.

Zurück zur Landesverteidigung

Sehen Sie denn bessere Optionen als die Blockbildung?

Ich frage mich, ob wir auf eine Multipolarität zusteuern können und welche Rolle Europa dabei spielt. Der französische Präsident Emmanuel Macron spricht von einer europäischen Souveränität. Das heißt, dass wir uns in Zukunft nicht mehr als Anhängsel der USA positionieren, sondern selbst verteidigungsfähig sind. Nur um mit Legenden aufzuräumen: Unter der Regierung Willy Brandt, also zu Zeiten der Entspannungspolitik, machte unser Verteidigungshaushalt über drei Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Gerade in dieser Zeit wurde dreimal so viel für konventionelle Verteidigung ausgegeben wie heute. Da muss etwas geschehen, da hat der Bundeskanzler mit dem Wort von der Zeitenwende auch das richtige Signal gesetzt. Wir müssen weg von internationalen Interventionen und zurück zur Landesverteidigung und natürlich notfalls zur Unterstützung von Nato-Staaten. Und die EU muss eine eigene Rolle spielen. Europa als Ganzes spielt wirtschaftlich in der gleichen Gewichtsklasse wie die USA und China. Wir müssen uns als Macht des Ausgleichs positionieren und könnten dann zur Stabilisierung der Weltordnung beitragen und uns eben nicht in die Abenteuer dreier letztlich revisionistischer Großmächte hineinziehen lassen. Die USA sind zwar eine Demokratie, aber sie gehören ebenso wenig wie Russland und China dem Internationalen Strafgerichtshof an, sie beugen sich nicht den internationalen Regeln und wollen den Status quo ändern. Dazu müsste Europa den Gegenpol bilden und sagen: Wir sind nicht revisionistisch, wir wollen Stabilisierung. Wir müssen hin zu einer Ordnung, in der Angriffskriege keinen Erfolg mehr versprechen. Übrigens ist die positive Seite trotz aller Schrecken des Ukraine-Krieges: Die meisten Militärexperten, aber auch deutsche Geheimdienstler haben einen raschen russischen Sieg erwartet, und sie haben sich geirrt. Das wird hoffentlich eine abschreckende Wirkung haben.

Glauben Sie denn, dass sich die EU dermaßen zusammenraufen kann?

Frankreich hat schon vor vielen Jahren eine Europäisierung seiner Atomwaffen angeboten. Deutschland war da zurückhaltend, aber wir haben eine neue Weltlage. Und so lange die USA, Russland und China Atomwaffen haben, kommen wir an dem Thema nicht vorbei. Frankreich setzt ja ausschließlich auf die Fähigkeit zum nuklearen Zweitschlag und nicht etwa auf Gedankenspiele über den Einsatz taktischer Atomwaffen, wie es sie auch in der Nato lange Zeit gab.

Das Verhältnis zu Russland

Wie soll nach dem Ukraine-Krieg eine multipolare Ordnung funktionieren? SPD-Chef Lars Klingbeil hat gesagt, man könne Sicherheit derzeit nur ohne, nicht mit Russland erreichen.

Diese Formel ist gefährlich. Wir haben ohnehin eine merkwürdige Situation: Die Generation der Kriegsdienstverweigerer plädiert für möglichst massive Waffenlieferungen an die Ukraine, alte Generäle wie Harald Kujat oder konservative Haudegen wie Kissinger sind zurückhaltend. Wer nach 1990 politisch sozialisiert wurde, hat die Erfahrung gemacht, dass der Westen gestalten kann – auch wenn das manchmal furchtbar schief geht wie im Irak. Die ältere Generation ist durch den Kalten Krieg geprägt, manche erinnern sich noch daran, wie die Welt in der Kubakrise knapp am Dritten Weltkrieg vorbeigeschlittert ist.

Aber wie soll wieder Vertrauen zu Russland entstehen?

Das wird nicht von heute auf morgen möglich sein. Aber es muss vertrauensbildende Maßnahmen geben. Russland wird auf der Landkarte bleiben. Im Westen nahe an der EU im Osten an China. Wer glaubt, es wird auf alle Zeiten keine Kooperation geben, der treibt Russland in die Arme Chinas. Das wäre nicht in unserem Interesse.

Und was wird dann aus der Ukraine?

Die Zeit ist dringend reif für Verhandlungen. Die Ukraine hat ja zu Beginn des Krieges die Bereitschaft erklärt, auf eine Nato-Mitgliedschaft zu verzichten, wenn sie Sicherheitsgarantien erhält. Es bedürfte echter Referenden unter der Ägide der Vereinten Nationen, etwa auf der Krim und in der Tat: das ist die große Frage. Wie können Garantien aussehen, die wirklich halten, wer steht dafür ein?

Das Buch: „Perspektiven nach dem Ukraine-Krieg – Europa auf dem Weg zu einer neuen Friedensordnung?“ (Herder Verlag, 144 S., 16 Euro) von Julian Nida-Rümelin, Matthias Kumm, Erich Vad, Albrecht von Müller, Werner Weidenfeld und Antje Vollmer.