Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Prognose des US-GeneralstabschefsKann die Ukraine noch siegen?

8 min

Setzt auf politische Lösung: US-Generalstabschef Mark Milley

Schwere russische Militärschläge und große Versprechen der ukrainische Führung: Die Zeichen stehen weiter auf Krieg. Doch US-Generalstabschef Mark Milley hält einen militärischen Sieg der Ukraine für unwahrscheinlich. Warum seine Prognose für die Ukraine gar nicht so schlecht ist. 

„Wir vergessen niemanden, wir werden niemanden zurücklassen“: Nach der Befreiung von Cherson hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Befreiung weiterer Gebiete angekündigt. Später legte er nach: „Wir alle spüren, wie unser Sieg naht.“ Ist das realistisch, und was könnte passieren?

Kann die Ukraine siegen?

Mark Milley, der Generalstabschef der USA, sieht das deutlich anders. „Die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges – definiert als der Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim – ist militärisch gesehen nicht sehr hoch", sagte er am Mittwoch (Ortszeit) bei einer Pressekonferenz. Schon zuvor hatte er inoffiziell wissen lassen, beide Kriegsparteien seien stark geschwächt. Russland habe 100 000 Soldaten durch Tod oder Verwundung verloren, auf ukrainischer Seite sehe es wohl ähnlich aus. Kiewer Regierungsstellen nennen übrigens nach Angaben des ukrainischen Militärjournalisten Illia Ponomarenko lediglich 10 000 eigenen Gefallene und 30 000 Verwundete.

Gibt es Verhandlungsspielraum?

Milley sah schon vor knappen einer Woche erste Anzeichen, dass Kiew bereit sei, mit Moskau zu sprechen. Der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschny, eigentlich ein besonnener Mann, sagte offensichtlich als Reaktion darauf nach einem Gespräch mit seinem US-Kollegen: „Unser Ziel ist es, das gesamte ukrainische Land von der russischen Besatzung zu befreien.“  Später stellte die US-Regierung aber klar: Es sei allein Sache der ukrainischen Regierung, über Verhandlungen zu entscheiden. Und Präsident Joe Biden schloss ausdrücklich Gespräche über die Köpfe der Ukrainer hinweg aus.

Selenskyj wiederum bestätigte, mehrere westliche Politiker hätten ihm die Botschaft übermittelt, Russland sei zu direkten Kontakten mit der Ukraine bereit. Wie weit die Gesprächsbereitschaft allerdings tatsächlich ginge, ist fraglich: Während Marija Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, zunächst von möglichen Gesprächen „auf Grundlage der aktuellen Realitäten“ gesprochen hatte, stellte Kremlsprecher Dmitri Peskow klar, Cherson sei weiterhin ein Teil Russlands. Wo wäre da Verhandlungsspielraum?

Wie ist die Stimmung in beiden Ländern?

Dass die Ukraine beim Thema Verhandlungen offiziell zurückhaltend ist, hat mit der Befürchtung zu tun, eine baldige Waffenruhe brächte eher Russland Vorteile. Frederick W. Kagan vom US-amerikanischen Institute for the Study of War (ISW) etwa meint, dass so eine Waffenruhe Putin die Möglichkeit gäbe, seine frisch rekrutierten Reservisten in Ruhe auszubilden. Andererseits glauben Kagan und andere Beobachter wie der britische Militärhistoriker Lawrence Freedman, dass auch Putin aus innenpolitischen Gründen gezwungen sein dürfte, den Krieg weiterzuführen. Er müsse den Hardlinern im eigenen Land seine Entschlossenheit beweisen, meint Kagan.

Für diese Diagnose spricht die Stimmung unter nationalistischen russischen Bloggern: Während Moskau es in den ersten Tagen nach dem Abzug aus Cheron schaffte, die Reihen einigermaßen geschlossen zu halten, fordete TV-Propagandist Wladimir Solowjow inzwischen eine Generalmobilmachung und die Entlassung unfähiger Militärs. Der Rechtsextremist Alexander Dugin deutete sogar düster Todesgefahr für Putin an. Der aus dem Donbass stammende  prorussische Blogger Daniiel Bessonow regte ironisch an, Selenskyj für seinen Cherson-Besuch wegen unerlaubten Grenzübertritts zu bestrafen. Söldnerführer Jewegeni Prigoschin zeigte sich durch ein von seiner „Gruppe Wagner“ veröffentlichte Video, auf dem ein angeblicher Deserteuer mit einem Hammer ermordet wird, als starker Mann, der eigentlich einen Staat im Staate führt. Angeblich spielt Prigoschin mit dem Gedanken, eine eigene Partei zu gründen.

Aber auch Selenskyj muss auf die Stimmung in seinem Land Rücksicht nehmen. Nicht nur, weil eine baldige Waffenruhe schlecht zur Euphorie nach der Befreiung von Cherson passen würde, sondern auch wegen der schweren russischen Kriegsverbrechen, die im September ja von einer UN-Kommission bestätigt wurden. Nun wurden nach ukrainischen Angaben auch im Gebiet Cherson Leichen von Folteropfern geborgen, 63 an der Zahl. Kein ukrainischer Regierungsvertreter könnte es unter diesen Umständen rechtfertigen, Teile des Landes mit ihren Einwohnern der Kontrolle russischer Streitkräfte zu überlassen.

Die Zeichen stehen also zunächst auf Krieg – trotz des nahenden Winters. Die Ukrainer würden keine Pause machen, meint der frühere US-General Ben Hodges: „Wir sind nicht mehr im 18. Jahrhundert.“

Welche Folgen haben die US-Kongresswahlen?

Sollte es russische Hoffnungen gegeben haben, das Ergebnis der Zwischenwahlen in der USA werde zu einem Zurückfahren der US-Hilfen für die Ukraine führen, dann sind diese Hoffnungen enttäuscht worden. Zu einem Durchmarsch von Anhänger von Ex-Präsident Donald Trump ist es nicht gekommen. Michael McGaul, außenpolitischer Experte der US-Republikaner im Repräsentantenhaus, forderte nach den Wahlen vom demokratischen Präsidenten Joe Biden sogar die Lieferung von Raketen längerer Reichweite an Kiew: „Wir müssen ihnen geben, was sie brauchen.“ McGaul rückte auch die Wahlkampfäußerung seines Parteifreundes Kevin McCarthy, des möglichen neuen Mehrheitsführers im Repräsentantenhaus, zurecht: Der habe mit seiner Warnung vor einem „Blankoscheck“ für die Ukraine wohl vor allem an Transparenz und Haushaltsdisziplin in Washington erinnern wollen.

Wie steht es im Krieg?

Die kampflose Einnahme von Cherson war ein gewaltiger Erfolg der ukrainischen Armee. Damit hat Russland auf absehbare Zeit keine Option mehr, die Einnahme so wichtiger Städte wie Odessa, Mikolajiv und der Stahlmetropole Krywyj Rih – Selenskyjs Heimatstadt – zu versuchen. Die Sicherheitslage in Cherson ist immerhin so gut, das Selenskyj die Stadt am Montag besuchen konnte.

Aber: Der russische Befehlshaber General Sergej Surowikin hat es offenbar geschafft, den größten Teil seiner Truppen, möglicherweise 30 000 gut ausgebildete Soldaten, und viel schweres Gerät geordnet über die wenigen Dnipro-Übergänge abzuziehen. Der US-Sicherheitsexperte Michael Kofman vermutet, dass dem eine inoffizielle Vereinbarung zu Grunde lag, die beiden Seiten hohe Verluste ersparte. Und Kofman erklärte dem ukrainischen Blatt „Kyiv Independent“ auch, was daraus folge: Die Ukrainer müssten sich darauf einstellen, die frei gewordenen russischen Einheiten an anderen Frontabschnitten wieder zu sehen.

Dort gibt es intensive Kämpfe. Im Nordosten, bei Swatowe, ist die Ukraine in der Offensive und versucht eine wichtige Versorgungslinie, die nach Sjewjerodonezk und Lyssytschansk führt, zu erobern. Im südlichen Teil der Donbass-Front, bei Bachmut, Donezk und Wuhledar gelangen der russischen Armee zuletzt kleinere Geländegewinne, allerdings zu einem unmenschlichen Preis: Allein beim Ort Pawliwka nahe Wuhledar sollen nach Angaben des russischen Exilblatts „The Insider“ 500 russische Soldaten gefallen sein. Nach dem Verlust Hunderter Kameraden hätten die Überlebenden einen Protestbrief geschrieben und seien zur Strafe erneut ins Feuer getrieben worden.

Was könnte jetzt passieren?

Die „New York Times“ schreibt über Hinweise aus ukrainischen Militärkreisen, dass man im Gebiet Saporischschja einen Durchbruch plane. Ziel wäre die auch von westlichen Experten immer wieder genannte Stadt Melitopol 70 Kilometer hinter der Front. Hier ist der russisch besetzte Gebietsstreifen recht schmal, denn südlich der Stadt ragt der Molotschna-Liman, ein Randsee des Asowschen Meers, 35 Kilometer tief ins Land. Durch Melitopol muss aller Nachschub rollen, der vom Donbass an die russische Front am Dnipro geht – umso wichtiger, da die Verbindung über die Krim ja seit dem Anschlag auf die Brücke von Kertsch gestört ist. Auch eine der beiden Routen vom ukrainischen Hinterland über Dämme und Brücken zur Krim beginnt hier, während der andere Zuweg, die klassische Strecke über die Landenge von Perekop, in Teilen von Cherson aus unter Feuer genommen werden kann. So würde den russischen Truppen nach einer Einnahme von Melitopol eine Wiederholung des Cherson-Traumas drohen: Von den Einheiten im Donbass isoliert, nur noch über ständig bedrohte Verkehrswege an die Krim angebunden, bliebe am Ende nur der Abzug.

Nach ukrainischer Darstellung hat Surowikin bereits zusätzliche Truppen nach Melitopol verlegt. Andererseits sind bei Cherson auch ukrainische Einheiten für andere Aufgaben frei geworden. So oder so wäre eine Melitopol-Offensive ein gewaltiges Unternehmen. Bei Cherson etwa waren die Ukrainer höchstens 40 Kilometer tief in zuvor russisch kontrolliertes Terrain vorgestoßen, bevor die Russen aufgaben. Und das hatten sie nur nach monatelangen intensiven Kämpfen geschafft. Bei Swatowe tun sie sich erkennbar schwer, den russischen Widerstand zu brechen. Und nun ein Durchbruch bis zum Molotschna-Liman? Der von der „New York Times“ zitierte britische Experte Justin Bronk bezweifelt, dass die Ukrainer zur Zeit genug Munition, Treibstoff und Ausrüstung für so einen großen Angriff hätten.

Noch anspruchsvoller wäre eine andere Option, über die seit Wochenbeginn spekuliert wird: Landemanöver auf dem östlichen, noch von Russland kontrollierten Dnipro-Ufer. Russland hat hier offenbar Soldaten aus einigen exponierten Orten am Flussufer wie Oleschky und Nowa Kachowka abgezogen und ins Hinterland verlegt – zum Schutz vor ukrainischen Artillerieangriffen. Plant Kiew hier mehr? Oder sind das alles Ablenkungsmanöver?

Gibt es Verhandlungen trotz Kämpfen?

Wie düster die Perspektiven zur Zeit sind, zeigen die massiven russischen Angriffe mit Marschflugkörpern und Drohnen vom Dienstag – wohl die bisher schwersten gegen die ukrainische Energieversorgung. Aber, daran hat der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld in der „Welt“ erinnert: Kämpfe schließen diskrete Verhandlungen nicht aus. Das kann für Einzelfragen gelten wie das jetzt doch verlängerte Abkommen über Getreideexporte oder eine mögliche Absprache über den russischen Abzug bei Cherson. Das kann auch für eine größere Lösung gelten. „Die Friedensverhandlungen im Zusammenhang mit dem Dreißigjährigen Krieg begannen 1635, endeten aber erst 1648“, schreibt van Creveld. Und Milleys Prognose, eine politische Lösung sei im Ukraine-Krieg sei  wahrscheinlicher als eine militärische, ist für Kiew nicht unbedingt nachteilig. Denn Milley begründete seine Aussage damit, dass Russland „im Moment auf dem Rücken“ liege. Die Ukraine müsse aus einer Position der Stärke heraus mit Russland Gespräche führen können.