Reportage aus Charkiw„Wir werden das auch überstehen“

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Wie aus der Zeit gefallen wirkt der Spruch über dem Eingang einer Schule in Charkiw (oben). „Erfolg im Lernen, Erfolg im Leben“ steht dort. Ein völlig intakter Basketballkorb (unten links) kündet  von besseren Zeiten. Von einer besseren Zukunft träumen Jurastudent  Artem Bochko (links) und Alice Makovetskaya (rechts), die eine kleine Weinbar im Stadtzentrum eröffnet hat. Auch für Lehrerin Tanya Melnikova (rechts unten) geht das Leben  weiter, sie unterrichtet  nur noch online. Svetlana, ihr Mann und die beiden Kinder können zu Hause nur noch einen Raum nutzen, nachdem ein Raketeneinschlag zu einem Brand im Wohngebäude geführt hat. Fotos: Michael Clasen; Tanya Melnikova; charkiw; ; ;;

Leben in Ruinen: Tanya Melnikova, Lehrerin in Charkiw

Raketen, Bomben, Sirenen: In der Metropole Charkiw im Osten der Ukraine, nahe der russischen Grenze, ist seit mehr als einem Jahr die Welt aus den Fugen. Ein Besuch bei Menschen, die in den Ruinen ausharren.

Es ist 4.36 Uhr, als die Alarmsirenen die Menschen von Charkiw vor einem neuen Raketenangriff warnen. Da die Straßenbeleuchtung oft nur wenige Stunden am Abend Licht spendet, ist die ehemalige 1,4-Millionen-Metropole stockduster, als das Heulen der Sirenen die Nachtruhe zerstört.

In Belgorod, gleich hinter der Grenze, stehen die russischen Waffen, die sie hier fürchten. Wenn die Offiziere von Präsident Wladimir Putin den Abschussbefehl geben, dauert es nur 40 Sekunden, bis die Raketen in Charkiw einschlagen. Manchmal ist die Detonation eher zu hören als der Luftalarm. 40 Sekunden sind nicht viel Zeit. In 40 Sekunden zu entscheiden, ob man nachts aus dem Bett steigt oder tagsüber seine Arbeit unterbricht, kann stressen oder ermüden, besonders wenn der Luftalarm mehrfach am Tag ertönt – und das seit mehr als einem Jahr.

Das Leben gehe weiter, aber „du kannst dich nie sicher fühlen, weder am Tag noch bei Nacht“, sagt Tanya Melnikova. Die Lehrerin unterrichtet wie alle ihre Kollegen die Kinder und Jugendlichen nur noch online. „Es wäre zu gefährlich, die Schulen zu öffnen“, sagt Melnikova, deren Eltern Russen sind.

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Die Sicherheitslage habe sich verbessert im Vergleich zum Beginn von Putins Angriffskrieg, sagt sie. Der letzte Einschlag in der Stadt liege zwei Wochen zurück. Und russische Panzer seien zum Glück auch keine mehr zu sehen, meint die Lehrerin.

Die Russen wurden an der Schule gestoppt

Nach Ausbruch des Krieges am 24. Februar 2022 versuchten die russischen Truppen Charkiw zu erobern. Sie wurden an der Schule gestoppt, über deren Eingang auf Deutsch und auf Ukrainisch steht: Erfolg im Lernen, Erfolg im Leben. Von der Schule stehen nur noch die Außenwände. Allein der Basketballkorb und die Spielgeräte auf dem Pausenhof sind heil geblieben. Ukrainische Einheiten lieferten sich hier schwere Kämpfe mit den russischen Aggressoren. Wäre diese strategisch wichtige Position gefallen, hätte der Weg ins Stadtzentrum offen gestanden.

Besonders stark getroffen wurde allerdings der Stadtteil Saltivka. Vor dem Krieg sollen hier mehr als 400000 Menschen gelebt haben, jetzt dürfte es nur noch ein Bruchteil davon sein. Die meisten Menschen sind geflohen – nach Polen, Deutschland und anderswohin. In den dortigen Plattenbauten aus der Ära der Sowjetunion klaffen große Löcher, die die eingeschlagenen Raketen verursacht haben. Viele Fassaden sind schwarz von den Bränden. Supermärkte, Kindergärten, Tankstellen, Cafés: alles ausgelöscht.

Eine Welt, die nicht zurückkehren wird

Lehrerin Tanya Melnikova ist vom Grad der Zerstörung ergriffen. „Warum? Wozu?“, fragt sie, als sie durch das zerstörte Viertel geht. Teilweise sind die Wohnblöcke so stark beschädigt, dass man sie abreißen muss. Leben hier tatsächlich noch Menschen? Vor einem halbzerstörten Wohnblock steht Svetlana. Sie will ihren Nachnamen nicht preisgeben, aber zeigt immerhin ihre Wohnung.

Die Außenfassade ist teilweise verkohlt. Viele Fenster sind zerstört. Auch die Decke des Flurs in Svetlanas Wohnung ist noch von den Flammen schwarz verkohlt. Es riecht muffig. Links von der Haustür hat sie ihr Trinkwasser in Kanistern. In der Drei-Zimmer-Wohnung mit kleiner Küche und kleinem Bad ist ein Raum so weit hergerichtet, dass sie mit ihrer Familie darin schlafen kann: ihre beiden Kinder, ihr Mann und sie selbst. Die Tapete hängt von der Wand. Es gibt kein fließend Wasser. Die Heizung funktioniert nicht. Nur das Wohn- und Schlafzimmer kann sie mit einer Elektroheizung erwärmen.

Plötzlich schießen ihr Tränen in die Augen. Für einen Moment ringt sie um Fassung. Dann erzählt sie den Grund: Sie musste gerade daran denken, dass sie die Wohnung renoviert hatten, damals im Dezember 2021, also wenige Wochen vor Beginn des Krieges. Diese Welt wird niemals zurückkehren.

Dann holt sie eine schwarz verkohlte Flasche mit geweihtem Wasser hervor und zeigt auf mehrere Heiligenbilder auf der Fensterbank. Die hätten alle das Feuer überstanden, sagt Svetlana. „Wir werden das auch überstehen“, sagt sie. Trotzig ruft sie: „Ruhm der Ukraine, Ruhm den Helden!“

Nicht unweit von Svetlanas Wohnung ragen die Überreste eines russisches Geschosses aus dem Bürgersteig. An manchen Häuserblocks haben Bauarbeiter damit begonnen, Schutt und Müll wegzuschaffen oder erste Sanierungen vorzunehmen.

Fabrikhallen sind nur noch Ruinen

In den Außenbezirken sind etliche Fabrikhallen nun Ruinen – vom Traktoren- bis zum Panzerwerk. Zu Sowjetzeiten galt Charkiw als einer der wichtigsten kommunistischen Industriestandorte. Davon ist heute nichts mehr zu sehen. Was Misswirtschaft, Korruption und Globalisierung von den Staatskonzernen noch übrig gelassen haben, scheint jetzt Opfer von Putins Raketenterror zu werden.

In der Innenstadt sind auch zahlreiche Gebäude zerstört. Viele Fenster sind notdürftig mit Holzplatten zugenagelt worden. Auch das Rathaus am berühmten Freiheitsplatz ist schwer ramponiert. In der Nähe liegt das Rechtsanwaltsbüro APEC. Das Gebäude ist wie das danebenstehende Business Center schwer beschädigt.

Bei den Rechtsanwälten verdient sich Artem Bochko Geld für sein Jurastudium dazu. Der 22-Jährige hat den gesamten Krieg hier verbracht. Weil er studiert, muss er derzeit nicht fürchten, an die Front geschickt zu werden. Geboren ist er in Svitlodarsk bei Bachmut, jener derzeit am stärksten umkämpften Stadt in der Ukraine.

Als der Krieg ausbrach, floh seine Mutter. Sie lebt jetzt in Kiew. Sein Vater sei geblieben, weil dessen Eltern nicht flüchten wollten und pflegebedürftig gewesen seien, erzählt der 22-Jährige. Das einst 12000 Einwohner zählende Dorf Svitlodarsk liegt seit Mai im russisch besetzten Gebiet. Die Front bildet eine unüberwindbare Grenze zwischen der Familie.

Und was passiert, wenn das einmal die Waffenstillstandslinie wird und wie in Korea die Menschen auf beiden Seiten für lange Zeit trennt? „Ich bin mir sicher, dass ich meinen Vater wiedersehen werde“, sagt Bochko. Bei seinem Großvater ist er sich dagegen nicht so sicher. „Er ist schon sehr alt.“

Eine kleine Weinbar als Hoffnungsschimmer

Im Stadtzentrum von Charkiw hat mittlerweile ein Einkaufszentrum wieder geöffnet, nachdem die Schäden eines Raketenangriffs beseitigt worden sind. Etliche Geschäfte und Restaurants sind aber noch geschlossen.

Roman und seine Frau Alice Makovetskaya haben den entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Rückschläge musste das Paar auch verkraften, herbe sogar. Eines von Romans Wohnhäusern war im vergangenen Jahr bei einem russischen Angriff getroffen worden. Die Eltern von fünf Kindern ließen sich davon jedoch nicht allzu lange beeindrucken. Sie eröffneten vor fünf Wochen im Stadtzentrum eine kleine Weinbar. „Bei unserer Eröffnungsfeier flogen Raketen auf die Stadt“, erzählt Roman. Danach habe die Stadt tagelang Versorgungsprobleme beim Strom gehabt. Würden sie jetzt, im Krieg, Charkiw jemals verlassen? „Nein, ich liebe meine Stadt. Es gibt keine bessere“, sagt die 37-Jährige draußen vor ihrer Bar und lacht.

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