Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Vorsitzende der Goethe-Gesellschaft Köln„Lesen ist Erleben, das funktioniert nicht mit kurzen Schnipseln“

6 min
Bei ihrem Goethe macht Petra Schwarze so schnell keiner etwas vor, große Werkslücken hat sie nicht.

Bei ihrem Goethe macht Petra Schwarze so schnell keiner etwas vor, große Werkslücken hat sie nicht.

Petra Schwarze ist Vorsitzende der Kölner Goethe-Gesellschaft. Im Gespräch mit Bernd Imgrund erzählt sie, wo sie mit dem Dichter-Fürsten gerne mal einen Wein trinken würde und was sie an der heutigen Generation bedauert

Mit wem haben Sie sich im Germanistikstudium vor allem beschäftigt?

Mit dem jungen Goethe, mit dem Götz von Berlichingen und dem Werther zum Beispiel.

Wollten Sie sich auch mal vor lauter Trauer erschießen?

Nein, dazu neige ich nicht. Aber ich konnte Werthers Tat nachvollziehen. Der war todtraurig und fand keinen Ausweg mehr für sich.

Wäre Goethe für die Ukraine oder für Putin?

Oh Gott, war für eine Frage! Ich glaube nicht, dass er sich überhaupt auf irgendeine Seite schlagen würde. Er würde wahrscheinlich über die Grausamkeit Putins und die Bedrohtheit der Ukraine reflektieren und etwas allgemein Menschliches daraus ziehen.

Petra Schwarze

Petra Schwarze

Aber er hat 1793 die Mainzer Republik belagert, während Georg Forster, sein alter Kumpel, bei den Revolutionären mitmischte.

Ich bin mir nicht sicher, inwieweit er da seinem Dienstherrn folgen musste. Dem Weimarer Fürsten. Geschossen hat er jedenfalls nicht.

Was lehrt uns die Klassik in der Postpostmoderne?

Zu sich selbst zu finden, sich selbst zu bilden. Die eigenen Talente zu entdecken, sich selber zu fördern, ohne auf Hilfe von außen zu warten.

Die meisten Schüler heute können nicht mal mehr ein ganzes Buch lesen, weil sie sich nicht konzentrieren können.

Ich bedaure das sehr. Ich weiß von einer Freundin, dass deren Sohn die deutsche Literatur nur noch in kurzen Schnipseln lernt. Aber Lesen ist ja auch ein Erleben. Sie tauchen ein in das, was da steht, und das funktioniert mit Schnipseln nicht.

Wie empfinden Sie dieses Eintauchen?

Ich befinde mich dann in der Welt, die das Buch vor mir ausbreitet. Das ist ein schönes Gefühl.

Welche Goethe-Werke sollten heutige Schüler lesen?

Ich bin keine Lehrerin, aber würde den Götz empfehlen. Der würde die Schüler catchen, schon durch seine raubeinige Ausdrucksweise.

Im Fastnachtsbrunnen auf dem Kölner Gülichplatz ist ein Goethe-Gedicht eingraviert.

Ein nettes Andenken an einen seiner zwei kurzen Besuche hier.

Existieren weitere Goethespuren in Köln, mal abgesehen von Goethestraßen?

Meines Wissens nicht. Wir hatten in der Goethegesellschaft mal überlegt, so eine Art Goetheweg in Köln zu gestalten. Aber es fehlen tatsächlich genügend Spuren.

Wie stellen Sie sich diesen Johann Wolfgang privat vor?

Die Frage habe ich mir selber auch schon oft gestellt. Ich glaube, dass er jemand war, der gegrüßt werden wollte, wenn man ihn traf. Die Herren sollten den Hut ziehen und die Damen zumindest freundlich lächeln. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das so gut gefunden hätte.

War er wohl lustig?

Vielleicht nach einem Glas Wein. Es ist nicht so, dass ich schallend lache, wenn ich was auch immer von ihm lese.

Wo hätten Sie gerne mit ihm Wein getrunken?

In einem schönen Lokal. Nicht bei ihm zu Hause in Weimar. Sein Haus, der vordere Besucherbereich, wäre mir zu repräsentativ gewesen.

Worüber hätten Sie mit ihm gerne geredet?

Über seine Freundschaft mit Schiller.

Waren die beiden wirklich Kumpels oder eher Konkurrenten?

Das war schon eine besondere Beziehung. Goethe hatte eigentlich nicht gerne mit kranken Menschen und Rauchern zu tun. Schiller war aber krank, er rauchte und durfte trotzdem bei Goethe wohnen. Aber sie waren sicher auch Konkurrenten. Im Balladenjahr 1797 haben sie sich gegenseitig ausgetauscht und zugleich hochgeschaukelt.

Im Balladengenre hat Schiller eindeutig gewonnen. Welche gefällt Ihnen am besten?

Die Bürgschaft. In der Schule musste ich sie auswendig lernen, den Schluss bekomme ich noch hin: „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte.“

Werther oder Wahlverwandtschaften?

Die Wahlverwandtschaften. Das Buch hat mich stärker berührt.

Faust oder Mephistopheles?

Das ist schwierig. Am liebsten beide. Mephisto hat etwas Böses, aber auch wieder sehr Menschliches an sich.

Ich wäre auf jeden Fall lieber Mephisto. Der kann aus Tischen Wein zaubern.

Das ist natürlich ein Argument. (lacht)

Mit Goethe verbindet man viele Städte in Deutschland. Gießen und Leipzig, wo er studiert hat, Frankfurt und Weimar. Wo wandeln Sie am liebsten auf seinen Spuren?

Durch mein Amt bin ich am häufigsten in Weimar. Aber ich bin nicht besonders schwärmerisch veranlagt. Ich kenne Menschen, die fahren nach Weimar, um sich ihm nahezufühlen. Das ist nicht meine Art, ich lebe im Hier und Jetzt.

Warum üben Sie Ihr Ehrenamt aus?

2023 stand der Vorstand fast vor der Auflösung. Ich war seit 2014 im Verein, bin seit 2018 im Vorstand und weiß, wie schwierig es ist, zig Leute unter einen Hut zu bekommen. Ich kann ganz gut organisieren, aber schlecht vor einer Gruppe stehen und reden. Also habe ich beschlossen, ich mache das jetzt, ich lerne das jetzt.

Sie arbeiten seit 2024 nicht mehr. Zeit, die 143 Bände der Weimarer Ausgabe zu lesen?

Oje. Ich denke nicht, dass ich größere Lücken habe. Aber manches muss ich nachschlagen. Zuletzt ging es um Wilhelm Meisters Lehrjahre. Goethe hatte Schiller die Manuskripte geschickt, und Schiller hat sich überschlagen vor Begeisterung. Er war aber auch gleichzeitig neidisch, weil ihm klar war: So etwas kriege ich nicht hin. Um sich zu lösen von diesem Neid, schrieb er Goethe, dass es „dem Vortrefflichen gegenüber keine Freiheit gibt als die Liebe.“

Nachschlagen gehörte auch zu Ihrem Brotberuf, Sie waren Archivarin. Klingt verstaubt.

Ich weiß, aber ist es nicht! Ich hatte vorher Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit in einer Verwaltung im Hunsrück gemacht. Aber ich kam nicht zurecht im Wald, ich bin Stadtmensch. Und hier in Köln ergab sich die Möglichkeit, im Archiv des DuMont Verlags anzufangen.

Und wenn ich etwa nach dem Goetheschen Fastnachtsbrunnen gefragt hätte?

Ganz am Anfang meiner Zeit, 1993, hätte ich noch mit Mikrofiches recherchiert. Ich hätte nach einem Stichwort oder einer Systematik-Nummer geschaut und Ihnen dann die entsprechenden Berichte aus Stadtanzeiger und Kölnischer Rundschau rausgesucht.

Welche schrägen Erfahrungen macht man als Archivarin?

Wir hatten einen Kollegen, ich nenne keine Namen, der manchmal sehr eigenwillig archiviert hat. Den Begriff „Starenkasten“, also die Straßenblitzer, hat er unter dem Stichwort „Vögel allgemein“ eingeordnet. Ist dann recht schwer, sowas zu finden.

Ich habe letztens eine offenbar mit KI übersetzte Jobanzeige gelesen: „Wir suchen Kraftfahrer, männlich, weiblich, Taucher.“ Wegen englisch „divers“.

(lacht) Nicht schlecht. Für uns waren immer die Rechercheaufträge am schwierigsten, die aus der Geschäftsleitung kamen. Wenn Herausgeber Alfred Neven DuMont eine Frage an uns richtete, haben wir alles stehen und liegen lassen, um ihm schnellstmöglich die gewünschten Informationen zu liefern.

Archive sammeln für die Ewigkeit. Was sollte von Goethe bleiben?

Mein Anspruch ist: Alles!

Sein berühmtestes Gedicht heißt „Ein Gleiches“ beziehungsweise „Wanderers Nachtlied“. Ich habe ChatGPT aufgefordert, ein Poem in diesem Stil zu verfassen (siehe Kasten). Hat eine halbe Sekunde gedauert, was halten Sie davon?

(nach einer Lesepause) Es liest sich auf den ersten Blick sehr poetisch. Aber: „Ich bin der Hauch, der Rosen bricht“? Wie soll das gehen?

Und der Hauch bricht ja nur, „wenn keiner ihn zum Blühen zwingt“.

Ja, das ist Unsinn. Da ist der Wind, da sind die Rosen, eine lyrische Anmutung. Aber wenn man genau hinsieht, ist das richtiger Quatsch. (lacht)