Jedes zehnte Kind in Deutschland kommt als Frühchen vor der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt. Die Leiterin der Neonatologie an der Uniklinik Köln erklärt, was sie brauchen.
Uniklinik KölnEine Handvoll Leben - Was extreme Frühchen brauchen
Das erste Kind, das an der Uniklinik Köln vor der 23. Schwangerschaftswoche zur Welt kam und versorgt wurde, war eigentlich ein „Spätabbort“. Niemand hätte 1998 damit gerechnet, dass ein so früh geborenes Baby eine Überlebenschance hätte. Doch nach einer halben Stunde lebte es immer noch. Die Intensivmediziner hielten es warm, stillten seinen Hunger und Durst, sorgten für Hautkontakt und gaben bei Bedarf Sauerstoff - und das kleine Mädchen überlebte. Vor ein paar Jahren besuchte die heute junge Frau ihre damalige Ärztin Dr. Angela Kribs in der Frauenklinik. Sie hatte gerade ihr Abitur bestanden.
Seit diesem extremen Frühchen werden seit 1998 an der Uniklinik Köln Frühchen versorgt, die noch vor Abschluss der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen oder die ein Geburtsgewicht von weniger als 500 Gramm haben. Rund 25 Kinder sind es pro Jahr. Eines davon ist Melina. Das Mädchen wiegt 490 Gramm, als sie Ende August an einem Samstag auf die Welt kommt. An diesem Tag sind es noch mehr als zehn Wochen bis zu ihrem errechneten Geburtstermin. Und doch schlägt Melinas Herz kräftig und sie atmet selbstständig.
Eigentlich ist die 28 Jahre alte Nur Karacatuce für eine Untersuchung aus Krefeld an die Uniklinik gekommen, doch als die Herztöne des Ungeborenen schlechter werden, wird Melina innerhalb von 20 Minuten auf die Welt geholt. Ein Team von Kinderärzten steht schon bereit, um das Kind intensivmedizinisch zu versorgen. „Zusammen mit den Geburtshelfern und Anästhesisten versuchen wir, dass das Kind möglichst wenig durch die Geburt gestresst und traumatisiert wird, damit wir es in seiner eigenen Vitalität nur unterstützen müssen“, erklärt Dr. Angela Kribs, die Leiterin der Neonatologie an der Uniklinik Köln. „Wir können die Intensivmedizin mit jeder Facette einsetzen, wenn es nötig ist, aber wir wollen sie auf das minimal Notwendige beschränken. Intensivmedizin kann lebensrettend sein, hat aber auch immer Nebenwirkungen.“
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Die ersten Tage nach der Geburt sind für Nur Karacatuce schrecklich. Die Trennung von ihrem Neugeborenen, das auf der Intensivstation liegt, die vielen Kabel, die Melinas winzigen Körper umgeben, „das hatte ich mir natürlich ganz anders ausgemalt“, sagt die 28 Jahre alte Mutter. Kraft und Zuversicht gibt ihr das sogenannte Känguruhen, bei dem das Frühchen Haut an Haut auf den Oberkörper der Mutter oder des Vaters gelegt wird. „Auch für die Kinder ist der Hautkontakt unerlässlich“, sagt Dr. Angela Kribs und erinnert sich an den Anfang der 90er Jahre, als das neuartige Känguruhen einen Aufschrei in der neonatologischen Community verursachte. „Es gab viele, die gesagt haben, es sei schädlich oder zumindest wirkungslos. Wir haben uns damals durchgesetzt und wissenschaftlich bewiesen, dass sich die Herzfrequenz der Kinder durch das enge Bonding verbessert.“
Psychosoziale Betreuung für die Familien auf der Station
Dr. Kribs arbeitet seit Ende 1987 an der Kinderklinik der Uniklinik Köln, seit 1989 kontinuierlich in der Neonatologie. „Die Eröffnung der Station in der Frauenklinik 1992 war ein Quantensprung in der Versorgung. Die Kinder mussten nicht mehr transportiert werden und konnten in der Nähe der Mütter sein.“ Der nächste Quantensprung für die Neonatologie soll in ein paar Jahren kommen. Dann zieht die Neonatologie so wie auch die Frauenklinik in das dann auf dem Gelände fertig gestellte „Centrum für Familiengesundheit“ um. Geplant sind mehrere Zimmer für Frühchen, in denen die Mutter oder ein anderer Elternteil mit untergebracht ist. „Bei der Eröffnung möchte ich unbedingt noch dabei sein“, wünscht sich Kribs, die in diesem Jahr 63 Jahre alt geworden ist.
Auch die Gabe von Muttermilch und die Stimmen von Mutter und Vater tragen heute nachgewiesenermaßen zum Gedeihen des Frühchens bei. In der Uniklinik Köln ist eine ausgebildete Musiktherapeutin drei Tage in der Woche ein paar Stunden auf der Station, die vor allem mit Summen und Singen arbeitet. Und auch die psychosoziale Betreuung ist mittlerweile eine Strukturvorgabe, die alle Perinatalzentren erfüllen müssen. Jeden Tag sind Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter auf der Frühchenstation unterwegs, um mit den Eltern über ihre Sorgen ins Gespräch zu kommen. „Die meisten Frühchen sind Wochen oder Monate im Krankenhaus. Das ist eine große Belastung für die Familie, vor allem wenn sie nicht aus Köln kommen“, so Kribs. So wie für Nur Karacatuce aus Krefeld, die versucht, sich über die kleinen Fortschritte der zwei Monate alten Melina zu freuen. „Sie wiegt jetzt 1200 Gramm und ist 38 Zentimeter groß. Sie macht das toll.“
Frühgeborene sind Kinder, die mit weniger als 37 abgeschlossenen Schwangerschaftswochen zur Welt kommen. „In Deutschland sind das etwa zehn Prozent aller Kinder“, sagt Kribs. Dass es im Laufe der Jahre mehr geworden sind, liege vor allem am fortgeschrittenen Alter der Mütter, in dem das Risiko für vorzeitige Wehen oder eine ernsthafte Schwangerschaftserkrankung höher sei. Aber auch Teenagerschwangerschaften oder Drogenmissbrauch in der Schwangerschaft können zu Frühgeburten führen - manchmal sei es aber auch nur eine Laune der Natur.
Ein Risiko für Folgeschäden sei bei Frühgeborenen immer gegeben, egal in welcher Woche sie zur Welt kommen, so Kribs: „Das können Entwicklungsverzögerungen sein, sensorische Beeinträchtigungen oder die kardiovaskuläre Gesundheit.“ Sehr frühe Frühchen beeinflusst laut Studien die intensive Erfahrung am Lebensanfang auch in ihrem Erwachsenenleben: „Sie haben häufig ein größeres Problem in Partnerschaften einzutreten und sie haben im Durchschnitt auch schlechtere Berufsabschlüsse, selbst wenn sie sich neurologisch gut entwickeln“, so Kribs.
In Köln können sehr frühe Frühchen in der Uniklinik und im Klinikum Holweide versorgt werden. Die Entscheidung liegt bei den Eltern. „Jedes Kind muss individuell betrachtet werden, wir wägen immer genau ab, welche Schritte wir gehen, und natürlich gibt es auch in der Medizin Grenzen“, sagt die Ärztin. „Manchmal ist es für ein Kind vielleicht der bessere Weg, wenn es geht. Dann geben wir den Eltern Raum und Zeit, um Abschied zu nehmen. Auch wenn es mehrere Tage dauert.“
Preis für Dr. Angela Kribs
Die Europäische Vereinigung perinatologischer Gesellschaften verleiht alle zwei Jahre einen Preis an einen Geburtshelfer und an einen Neonatologen. 2024 geht der neonatologische Preis an Dr. Angela Kribs (63). Verliehen wurde die Auszeichnung Anfang September in Wien. Gewürdigt wurde damit vor allem das von Kribs in Köln gelebte Konzept, auf die Fähigkeiten des einzelnen Frühchens zu vertrauen und die Intensivmedizin nur da einzusetzen, wo sie unbedingt erforderlich ist.