Nachruf auf Norbert BlümKämpfer für Europa, Gerechtigkeit und humanen Kapitalismus

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Der damalige CDU-Abgeordnete Norbert Blüm bei seinem Redebeitrag während der Mitbestimmungsdebatte im Bundestag in Bonn, am 18. März 1976

  • Der ehemalige Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm ist tot. Er ist im Alter von 84 Jahren gestorben.
  • Ulrich Lüke blickt zurück auf dessen bewegte politische Karriere.

Bonn – Wo anfangen, wo aufhören bei einem Mann, dessen Leben Begegnung und Bewegung war, bis ihn eine Blutvergiftung von den Schultern ab lähmte und ihn in, wie er sagte, „geradezu mönchische Verhältnisse“ zwang? Vielleicht an seiner Haustür im trubeligen Teil der Bonner Südstadt: „Hier war Goethe“ steht da in ganz großen Lettern – und darunter ganz ganz klein: „nie“. Ein typischer Blüm, ein Einblick in seinen umwerfenden Humor, noch bevor er selbst spricht. Als er nach fast einem Jahr das Krankenhaus verlässt, um in sein „privates Exil“ zurückzukehren, schreibt er: „Ich lebe wie Gott in Frankreich. Rund um die Uhr werde ich bedient.“ Oder Anfang 2019 auf einem Podium in Bad Godesberg. Helge Matthiesen fragt: „Sie waren 16 Jahre Minister im Kabinett von Helmut Kohl. Der Einzige, der so lange neben ihm durchgehalten hat. Wie haben Sie das geschafft?“ Blüms entwaffnende Antwort: „Ich bin halt gut gewesen.“

Er war es viele Jahre – vor und nach Kohl. Als ihm 2003 vom Bonner Medienclub das Bröckemännche verliehen wird – es ehrt Persönlichkeiten, die wider den Stachel löcken - charakterisiert ihn der Nicht-Parteifreund Horst Ehmke mit wenigen Worten, aber so treffend: „Kugelrund und doch gradlinig, schwarz wie die vergehende Nacht, hessisch-trotzig, aber rheinisch veredelt.“

„Herz-Jesu-Marxist“ und „linker Konservativer“

Norbert Sebastian Blüm wird am 21. Juli 1935 in Rüsselsheim geboren. Vater evangelisch, Mutter „sehr“ katholisch: „Ich bin also ein ökumenisches Produkt.“ Onkel Adolf gläubiger Kommunist. „Mein ewiger Gegner. Wir haben jedes Familienfest geschmissen, weil wir irgendwann immer Streit bekommen haben.“ Adolf, erzählt Blüm, landete im KZ, weil er russischen Fremdarbeitern Essen gab, verraten von einem Mitglied des Kirchenvorstandes in seiner Pfarrei. So viel zu den Schemata von bösen Kommunisten und guten Christen, zu links und rechts, schwarz und weiß im Denken, Handeln, Leben des Norbert Blüm. Viele nannten ihn „Herz-Jesu-Marxist“, er sich lieber einen „linken Konservativen“.

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Norbert Blüm (CDU), ehemaliger Arbeits- und Sozialminister, und seine Frau Marita sitzen auf einer Bank in ihrem Garten im Frühling 2019

Der frühe Messdiener und Pfadfinder Norbert wird Werkzeugmacher bei Opel in Rüsselsheim, er geht in die IG Metall – bis zuletzt ist er dort Mitglied - emigriert aber, wie er sagt, „wegen der sozialdemokratischen Intoleranz einiger Gewerkschaftsfunktionäre“ in die CDU. Blüm holt das Abitur nach, studiert in Köln und Bonn Germanistik, Philosophie und Katholische Theologie (bei Joseph Ratzinger) und lernt dort seine Frau Marita kennen. Aus der Ehe gehen zwei Töchter und ein Sohn hervor: Christian ist Schlagzeuger der Kölschrocker Brings.

Schon immer einen eigenen Kopf bewiesen

Der Weg des mittlerweile Promovierten führt – als könnte es nicht anders sein – zu den Sozialausschüssen der CDA, deren Chef er zehn Jahre bis 1987 sein wird. Seine Partei muss schon in den 70er Jahre ertragen, dass er einen eigenen Kopf hat.

So wirbt er für Verhandlungen mit der DDR, plädiert für die Ratifizierung der Ostverträge. 1972 zieht er zum ersten Mal in den Bundestag ein, dem er mit einer kleinen Unterbrechung drei Jahrzehnte angehören wird. Die kleine Unterbrechung: Der Rheinhesse und spätere Rheinländer wird 1981/82 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und Senator für Bundesangelegenheiten, was ihn nach der Einheit nicht daran hindert, vehement für den Verbleib des Bundestages in Bonn zu werben. Weil, so sein Credo: Vieles geht nur noch europäisch – und weil das so ist, wächst der Wunsch der Menschen nach Nähe und die Abneigung gegen den Moloch eines deutschen Zentrums.

„Die Rente ist sicher“

Es folgt die Zeit des Bundespolitikers Norbert Blüm, die sein Bild in der Öffentlichkeit geprägt hat: 16 Jahre als Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Doch wer Blüm auf den Satz „Die Rente ist sicher“ reduziert, vergisst all die anderen prägenden Ansichten eines Mannes, der gern „unverblümt“ anderen die Leviten las, ohne persönlich verletzend zu werden. Vor Jahren – er war schon lange Politrentner – hat er mal einer Kollegin Einblick in seine Telefonate gegeben. „Lebensrundlauf“ hat er diese Gespräche in die Vergangenheit genannt.

„Ist da die Zentrale für sozialistische Gesinnungsprüfung und Gehirnerweichung?“, fragt er, als er bei Lafontaine anklingelt und ihm gleich sagt, dass der „Spiegel“ mithört. „Alles Arschlöcher“, tönt es aus Saarbrücken an den Rhein. Eine Wortwahl, die nie seine war. Obwohl auch er direkt sein konnte. Schluss des Telefonats mit Oskar: „Grüß deine Alte. Ich meine deine Neue.“ Lafontaine: „Kannst ruhig Sahra sagen.“

Fester Wille und Durchsetzungsvermögen

Norbert Blüm wusste, was er wollte – und er setzte es – meist – durch. Die Pflegeversicherung etwa. Okay, zuletzt zweifelt auch er, ob die Rente wirklich sicher ist. Rügt die Zurückdrängung der leistungsbezogenen Sozialleistung zugunsten „obrigkeitsstaatlicher Versorgung“. Und postuliert: „Soll doch jeder so lange arbeiten, wie er kann und will.“

Aber seiner katholische Soziallehre, der Verbindung von individualistischem Liberalismus und gemeinschaftlichem Sozialismus, ist er immer treu geblieben. Manchmal auch zum Leidwesen seiner Partei. Apropos Partei. Zwei wesentliche Begebenheiten: Heiner Geißler, der seelenverwandte CDU-Generalsekretär, drängt ihn 1987 parallel zum Ministeramt in Bonn den Landesvorsitz der erst zwei Jahre zuvor aus Rheinland und Westfalen Lippe fusionierten NRW-CDU auf, den er zwölf Jahre dann auch innehat. Ohne Erfolg gegen Johannes Rau, was ihn nicht schmerzt, ist sein Hauptbezugspunkt doch immer die Bundespolitik in Bonn.

Und damit – Punkt zwei – der Chef Helmut Kohl, den er bis zuletzt und wegen der Einheit einen Großen nannte. Aber als der kleine Nobby dem schwarzen Riesen wegen dessen Spendenaffäre zum Rücktritt vom Ehrenvorsitz der CDU rät, ist das Tischtuch zerschnitten. Blüm sucht später den Kontakt, um „Frieden miteinander zu machen“, aber Kohl meldet sich nicht mehr: „Das ist schade. Aber ich kann ja nicht etwas für richtig halten, was falsch ist, nur weil es um einen Freund geht. 2 mal 2 ist 4 und wird aus Freundschaft nicht 5.“ Und: „Man kann das Recht nicht mit einem Ehrenwort außer Kraft setzen.“

Frieden als größtes Geschenk

Mit dem Ende der Kanzlerschaft Kohl beginnt auch Blüms Rückzug aus der Politik. 1999 gibt er den CDU-Landesvorsitz auf, 2000 kandidiert er nicht mehr als stellvertretender Bundesvorsitzender, zwei Jahre später verlässt er den Bundestag. Blüm intensiviert das Leben als Autor. Nicht nur politisch. „Vom Weihnachtsmann“, „Franka und Nonno auf den Spuren des Bären Ludewig“ oder die „Glücksmargerite“ - nur einige Beispiele für seine erfolgreichen Kinderbücher. Aber die Politik im Werk des Politrentners überwiegt natürlich. Und wie!

Er legt sich – jetzt auch per Buch – mit dem Kapitalismus an: „Aufschrei! Wieder die erbarmungslose Geldgesellschaft.“ Er wählt die große Perspektive: „Ich bin für Sozialpolitik, Rente - das ist alles ganz wichtig. Aber Frieden! Er ist das größte Geschenk. Ich fürchte, wir sind dabei, das zu vergessen.“ Und deshalb engagiert er sich für Europa, so wie er es versteht. „Europa ist mehr als eine Wach- und Schließgesellschaft“, schreibt er. Deshalb unterstützt er Merkels Flüchtlingspolitik uneingeschränkt: „Wenn 500 Millionen Wohlstandsbürger in Europa nicht fünf Millionen Flüchtlinge aufnehmen können, dann schließen wir den Laden wegen moralischer Insolvenz. Wenn wir nur fähig sind, Banken zu retten, aber Menschen absaufen lassen, dann will ich dieses Europa nicht.“

Mitmenschen lagen ihm immer am Herz

Deutlicher kann ein Mensch kaum sagen, wie sehr ihm Europa und Mitmenschlichkeit am Herzen liegen. Und Gerechtigkeit. In einem seiner letzten Bücher („Einspruch!“) attackiert er die „Selbstgefälligkeit“ der deutschen Justiz, die Familiengerichte nennt er „am meisten verkommen“: „Dem Staat ist der Rost am Auto wichtiger als das Kind.“ Und er legt Einspruch ein gegen das unwürdige Verhalten der Kölner Kirche gegenüber Bonns Stadtdechanten Wilfried Schumacher. Er engagiert sich für die Menschenrechte in Chile, für Palästinenser und gegen Kinderarbeit und er gibt Selbstkritisches zu Protokoll. Einmal versteckt in einem Lob für Angela Merkel: „Es geht ihr nie darum, Eindruck zu machen. Das unterscheidet sie von Gerhard Schröder. Ich selbst war in diesem Punkt mehr Schröder als Merkel.“ Und ein anderes Mal in einem Vergleich: „Ich habe vor Jahren den Bau von Atomkraftwerken mitgefeiert. Ich bin darauf reingefallen. Ein zweites Mal, nämlich bei der Digitalisierung, bin ich mit dem vorauseilenden Jubel vorsichtiger.“

Zuletzt sprach Norbert Blüm häufiger über den Tod. Mal lustig: „Dass man mit über 80 mehr Freunde hinter den Friedhofsmauern hat als davor, gehört zum Altwerden dazu.“ Mal - nach dem, was er „das Rollstuhlereignis“ nannte - sehr ernst: „Mein Lebensgefühl akzeptiert es nicht, auf Dauer gelähmt zu sein.“ Mal ganz im Sinne seiner Soziallehre: „Vielleicht ist die Erfahrung der Sterblichkeit sogar die tiefe Quelle der Solidarität zwischen Menschen.“ Und in einer Mischung aus allem: „Wenn ich nicht mehr neugierig bin, bin ich tot.“

„In der Nacht zu Freitag ist Norbert Blüm im Alter von 84 Jahren gestorben.“

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