1700 Jahre jüdisches Leben in Köln„Es gibt einen Bodensatz an Antisemitismus im Land“

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Eine Benutzerin betrachtet das Edikt von 321 im virtuellen Lesesaal der Vatikanbibliothek.

  • Im kommenden Jahr jährt sich die erste Erwähnung von Juden im heutigen Deutschland – in Köln – zum 1700. Mal.
  • Im Rundschau-Redaktionsgespräch äußern sich zwei Organisatoren der Feiern: Jürgen Rüttgers und Joachim Gerhardt.

Vor 1700 Jahren wurde die jüdische Gemeinde in Köln erstmals erwähnt, seit 1700 Jahren ist jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschland nachweisbar. Seit Jahren planen Sie die Feiern, und jetzt haben wir die Corona-Krise. Was bedeutet das für Sie? Rüttgers: Keiner weiß, wie es weitergeht. Andererseits sage ich Ihnen als jemand, der schon im zweiten Semester Hochschul-Seminare rein digital gibt: Da ist mehr möglich, als wir alle glauben. Bei den Veranstaltungen geht es um die Inhalte. Vieles geht notfalls auch in rein digitalen Formaten.

Gerhardt: Wir erreichen zum Beispiel jetzt schon viele Interessenten durch Podcasts. Wir planen jede Veranstaltung in drei Versionen: mit vielen Gästen, mit wenigen Gästen, ganz klein.

Und der zentrale Festakt?

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Gerhardt: Der Termin steht. Am 21. Februar kommt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Köln. Wir hoffen auf eine Veranstaltung im Gürzenich, im Herzen von Köln. Eine Alternative wäre die Messe mit ihren größeren Hallen. So große Veranstaltungen sind jedoch die Ausnahme.

Mit wie vielen Veranstaltungen rechnen Sie?

Gerhardt: Über 1000, und es melden sich immer noch neue Partner. Bei 301 Projekten haben wir gerade eine Förderung durch Bundesmittel beantragt. Gefeiert wird im ganzen Land. Köln ist zwar der Ort, auf den sich die erste Erwähnung bezieht, aber es ist kein lokales Jubiläum. Judentum hat über 1700 Jahre unsere Kultur geprägt – in ganz Deutschland.

Projekte

Der Landschaftsverband Rheinland plant eine Wanderausstellung, die auch in Berlin gezeigt wird.

Die Sopranistin Dalia Schaechter präsentiert ab Juni in der Kölner Oper Szenen nach Werken jüdischer Komponisten: „Mazeltov, Rachel’e“.

Das Museum Ludwig hat den aus Tel Aviv stammenden Kölner Künstler Boaz Kaizman mit einer Installation beauftragt. (rn)

Rüttgers: In Deutschland leben 200.000 Juden, davon 100.000 als Mitglieder jüdischer Gemeinden. Ich hatte einen jüdischen Klassenkameraden. Von Kind auf wusste ich, Juden sind Leute wie ich und du. Viele Menschen haben keine derartigen Kontakte. Umso wichtiger ist es, ihnen jüdisches Leben nahezubringen und dessen Spuren aufzuzeigen. Bei mir zu Hause etwa die Geschichte von der geretteten Synagoge Stommeln. Wir werden uns wundern, welche Begegnungen möglich sind. Wir lassen uns nicht stoppen – weder durch Corona noch durch Leute, die etwas gegen jüdisches Leben in Deutschland haben.

Werden Sie mit Drohmails oder Hasspostings konfrontiert?

Rüttgers: Ich persönlich nicht. Aber es gibt einen Bodensatz an Antisemitismus in diesem Land. Es ist doch unerträglich, dass vor jeder Synagoge ein Polizeiwagen stehen muss.

Gerhardt: Die Lage hat sich wirklich zugespitzt. Ich kenne Juden, die hier geboren sind und jetzt nach Israel ziehen. Und andere, die mir sagen: Ich habe die Koffer noch nicht gepackt, aber ich weiß immer, wo meine Koffer stehen.

Wie konnte es zu einer solchen Entwicklung kommen?

Rüttgers: Seit Jahren wurde die Bedrohung durch den Rechtsextremismus unterschätzt. Wir müssen dagegen mit der gleichen Härte vorgehen wie früher gegen den RAF-Terrorismus. Das Gleiche gilt für den islamistischen Extremismus.

Können  Jubiläumsveranstaltungen da etwas bewirken? Kommen da nicht nur diejenigen, die sowieso guten Willens sind?

Gerhardt: Leute, die mit Reichskriegsflaggen durch die Straßen ziehen, erreichen wir nicht. Aber vielleicht den einen oder anderen, der sonst gefährdet wäre.

Rüttgers: Junge Leute, die in Auschwitz waren, in Yad Vashem oder im Holocaust-Museum in Washington, die kommen meist mit ganz anderen Vorstellungen zurück als denen, mit denen sie hingefahren sind. In Washington hat man dokumentiert, wie viele Lager es allein auf deutschem Boden gab: 42 000. Etwa Häuser, in denen Juden zur Deportation gesammelt wurden, oder Zwangsarbeiterlager. Daran müssen wir erinnern. Es ist nicht zu glauben, wenn sogenannte Zeitzeugen erzählt haben, sie hätten nichts gewusst.

Müsste man die Reise in ein ehemaliges Konzentrationslager für Schüler zur Pflicht machen?

Rüttgers: Der Besuch einer Stätte der Erinnerung an die NS-Verbrechen muss Pflicht für jeden Schüler sein. Es müssen nicht nur die großen Konzentrationslager sein, ich denke etwa auch an das EL-DE-Haus in Köln. Und ich gehe noch einen Schritt weiter: Wir brauchen in Deutschland ein Holocaust-Museum. Egal, wie oft Sie beispielsweise in Yad Vashem waren, Sie werden tief erschüttert herauskommen. So ein Ort fehlt in Deutschland.

Wo sollte so ein Museum hin? Nach Berlin?

Rüttgers: Wir sollten uns zuerst darüber verständigen, dass wir so einen Ort wollen. Er muss gleichzeitig eine Stätte der Forschung sein. Wir können nicht einfach sagen, wir machen jetzt die Bücher zu.

Welche Rolle spielt die AfD?

Rüttgers: Die AfD ist offensichtlich nicht bereit, die gemeinsamen Werte unserer Gesellschaft zu akzeptieren. Sie relativiert NS-Verbrechen, sie bekämpft die Westintegration, sie hat entgegen allen Beteuerungen Berührungspunkte mit den Idenditären, sie wird von einem völkischen Block dominiert. Wir müssen uns mit dieser Partei intellektuell und politisch auseinandersetzen – und ich kann nur hoffen, dass sie nach der nächsten Wahl aus dem Bundestag verschwindet.

Ist Antisemitismus wieder salonfähig? „Du Jude“ als Schimpfwort auf Schulhöfen, der Kölner Rabbiner, der nicht mehr Straßenbahn fährt, weil er dort beschimpft wird.

Gerhardt: Ja, und das zeigt, wie wichtig unsere Veranstaltungen sind. Wir planen zum Beispiel einen Geschichtswettbewerb für junge Leute. Wir planen Auftritte jüdischer Musiker. Wir tun ganz gezielt etwas gegen diesen Schulhofantisemitismus.

Etliche Menschen in Deutschland kommen aus Regionen, in deren Erinnerungskultur der Nationalsozialismus keine Rolle spielt, aber der jüdische Staat Israel als Feind gilt …

Rüttgers: Darüber haben wir in der Tat zu wenig diskutiert. Die überwiegende Mehrheit der deutschen Muslime ist von jeder Form des Antisemitismus weit entfernt. Der Zentralrat der Muslime ist sogar im Trägerverein unseres Jubiläumsjahrs vertreten. Aber es gibt eben auch die anderen.

Wir reden über 1700 Jahre jüdisches Leben, und kein Jude sitzt im Raum. Sie, Herr Rüttgers, sind bekennender Katholik, Sie, Herr Gerhardt, evangelischer Pfarrer…

Gerhardt: Ich setze noch einen drauf: Wir haben noch einen weiteren Pfarrer im Vorstand. Weil das Jubiläum die ganze Gesellschaft angeht. Nicht nur die Juden haben etwas zu feiern, sondern wir alle.

Rüttgers: Es geht um Zukunft. Ich finde es großartig, dass Zehntausende Juden aus Osteuropa in Deutschland einen Ort jüdischen Lebens sehen, und es ist toll, welche Integrationsleistungen die Gemeinden erbringen. Ebenso gut finde ich es, dass in Köln über ein jüdisches Gymnasium diskutiert wird.

Gerhardt: Oder denken sie an den Karnevalsverein ‚Kölsche Kippa-Köpp‘. Karneval ist ein zentrales gesellschaftliches Thema – und jüdische Karnevalisten gehören dazu.

Mit welchem Fazit würden Sie gern aus diesem Jahr herausgehen?

Rüttgers: Ich wäre froh, wenn nachher alle sagen: Das war genauso gut wie 2017 das Lutherjahr.

Zum Jubiläum im nächsten Jahr

1700 Jahre ist es nächstes Jahr her, dass Kaiser Konstantin die Berufung von Juden in Stadträte genehmigte („iudaeos vocari ad curiam“). Das Edikt vom 11. Dezember 321 erging auf Anfrage der Kölner Ratsherren, galt aber fürs ganze römische Reich. Gut 250 Jahre nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels lebten also Juden in Köln. Einige waren offenbar wohlhabend. Denn die Kosten politischer Ämter trug man damals selbst, und der Kölner Rat wollte die Juden daran beteiligen. Konstantin milderte das ab, indem er den Juden als „Trost” gestattete, dass „je zwei oder drei“ von ihnen nicht mit einer solchen „Berufung belastet“ werden sollten.

Überliefert ist das Edikt im „Codex Theodosianus“, einer unter dem oströmischen Kaiser Theodosius II. zwischen 429 und 437 angelegten Rechtssammlung. Die älteste Handschrift liegt in der Vatikanbibliothek.

Der Verein „321–2021“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, zentrale Feierlichkeiten zum Festjahr anzuregen und zu organisieren. Das Kuratorium leitet der frühere NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU). Der Bonner evangelische Pfarrer Joachim Gerhardt  ist zweiter Vorsitzender des Vereins. (rn)

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