Interview

Jürgen Rüttgers über notwendige Innovationen
„Wir müssen uns stärker der Globalisierung stellen“

Lesezeit 5 Minuten
22.06.2021, Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: Jürgen Rüttgers (CDU), ehemaliger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, aufgenommen vor seinem Büro.

Wie erhalten wir unsere demokratische Gesellschaft und sichern ein ökologisch verantwortbares Wachstum? Jürgen Rüttgers hat sich dazu in einem neuen Buch geäußert.

Ist unsere Demokratie in Gefahr? Steht die EU vor der Paralyse? Ganz im Gegenteil, meint der frühere NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU). Im Interview erklärt er, was sich seiner Meinung nach ändern muss. Und warum wir eine europäische Wasserstoffunion brauchen.

Herr Rüttgers, müssen Historiker in 20 Jahren Bücher darüber schreiben, wie die Demokratie in Deutschland und anderen Ländern förmlich abgewählt wurde?

Nein, das halte ich für Unsinn. Wir setzen große Kräfte immer dann frei, wenn wir merken: Da geht was schief. Und genau das passiert. Es ist ja wirklich begeisternd, dass sich jetzt Millionen Menschen in Deutschland, aber auch in den anderen europäischen Ländern treffen, um klar zu sagen: Demokratie ist auch in der Zukunft der richtige Weg.

Das Problem scheint mit zu sein, dass die Bundesregierung nicht klar sagt, wohin es geht.
Jürgen Rüttgers

Aber ist unser System nicht mit der Aufeinanderfolge so vieler Krisen – Fluchtwellen, Corona, Russlands Angriff auf die Ukraine, Energiekrise – überfordert?

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Das Problem scheint mit zu sein, dass die Bundesregierung nicht klar sagt, wohin es geht. Man kann nicht einfach nur nebenbei diskutieren, was sich ändern muss. Die Weiterentwicklung unseres Systems muss im Mittelpunkt stehen. Wir müssen uns stärker als in der Vergangenheit der Globalisierung stellen. Das führt dann zu einer zu einem Engagement in der Geopolitik. Ganz wichtig ist, dass wir weiter die Soziale Marktwirtschaft konkret umsetzen und uns nicht der Staatswirtschaft hingeben, was die aktuelle Regierung immer wieder tut. Der dritte Punkt ist die Umweltpolitik. Wir müssen erkennen, dass wir ökologische Fragen durch Digitalisierung lösen können. Und das vierte ist das vereinte Europa, das notwendig ist.

Viele Leute sehen zum Beispiel auf den Wohnungsmarkt, wo die Preise sich so entwickeln, dass Investoren kaum mehr Wohnungen zu bezahlbaren Mieten bauen können. Muss denn da nicht der Staat eingreifen?

Die Soziale Marktwirtschaft war nach dem Zweiten Weltkrieg die große Antwort auf die Probleme, und sie wurde zu einem großen Erfolg. In den letzten Jahren haben wir aber zu zu wenig getan. In Brüssel gibt es eine Vielzahl von Politikern, die glauben, der Staat müsse alles regeln, sogar die Ziele der Forschung. Das ist falsch, und das ist der Grund für unsere Probleme. Es ist ja einfach mit Händen zu greifen, dass die Unternehmen sagen: Es muss jetzt Schluss sein mit immer neuen Vorschriften, immer neuen Vorgaben, die am Schluss dazu führen, dass gar nichts passiert. In Köln kann man sehen, dass weder die öffentlichen Bauten, die Straßen, noch sogar die Stadtplanung funktionieren.

Sie haben eben die Ampel-Regierung kritisiert. Aber sind für die Probleme nicht auch deren Vorgänger verantwortlich, auch Frau Merkel?

Wir haben Deutschland seit 1989 deindustrialisiert. Wir brauchen mehr Wachstum, mehr Produktivität und mehr Forschung, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Andererseits dürfen wir jetzt nicht den Fehler machen und sagen: Jetzt sind wir gegen die Wand gefahren und es geht nichts mehr.
Jürgen Rüttgers

Sie waren von 1994 bis 1998 Bundesforschungsminister…

Damals haben wir ein gemeinsames europäisches Hochschulsystem mit Bachelor, Master und dem international geläufigen Doktortitel PhD eingeführt. Wir haben einen Bioregio-Wettbewerb um die Gentechnik eingeführt. Wir haben moderne Fertigungstechnologien und fortgeschrittene Werkstoffe, Nanotechnologie, Nanoelektronik gefördert. Besonders in Nordrhein-Westfalen haben wir große Chancen.

Wir haben aber geglaubt, dass nach der Wiedervereinigung in Deutschland unsere Zukunft auf Dauer gewährleistet sei. Das ist nicht so. Wir haben in der Energiepolitik schon seit Gerhard Schröder eine einseitige Abhängigkeit von Russland aufgebaut. Andererseits dürfen wir jetzt nicht den Fehler machen und sagen: Jetzt sind wir gegen die Wand gefahren und es geht nichts mehr. Das ist natürlich nicht richtig, sondern Deutschland ist immer noch in der Wirtschaft mit ganz vorne, nicht nur in Europa, sondern auch darüber hinaus. Ich hatte die große Freude, für die Europäische Kommission ein Programm für die Forschungsentwicklung zu erstellen. Da kann man genau sehen: Wir liegen in vielen Bereichen weit vorn, ob im Computerbereich, im Energiebereich, bei Werkstoffen. Aber Forscher und Unternehmer müssen jetzt die Möglichkeit bekommen, sich zu entfalten. Dann schaffen wir die Transformation.

Allein oder im Verbund?

Nehmen wir das Beispiel Energie: Die Sicherung der Wasserstoffversorgung schaffen wir nicht allein, wir brauchen ein europäisches Gesamtkonzept. Die Basis der heutigen Union war die Montanunion der 1950er Jahre. Heute brauchen wir eine Wasserstoffunion. Man kann nicht alles mit Windenergie und Photovoltaik lösen. Unsere Industrie braucht Wasserstoff und die Wohnungswirtschaft, nach der Sie eben fragten, auch. Wir können ihn zum Teil mit unseren vorhandenen Gasleitungen transportieren. Aber die Umstellung erfolgt zu langsam.

Aber die EU, auf die Sie setzen, ist doch in der Krise. Einzelne Regierungen versuchen, die Gesamtheit zu erpressen.

Wir müssen die Flamme der Freiheit und Menschenwürde in die Zukunft weiter tragen. Und es ist richtig, dass die Vaterländer Europas in dieser Welt nur überleben werden, wenn sie gemeinsam handeln. Unser Ziel muss das vereinte Europa sein. Rechts- und linksradikale Parteien wollen wieder zurück in die Vergangenheit, bei der AfD ist ein EU-Austritt nach britischem Vorbild Teil des Programms, als ob man nicht sehen könnte, wohin das führt. Das sind Menschen, die entweder nicht wissen, was sie tun, oder dass sie zurückkommen wollen zu den nationalistischen Vorzeiten.

Die Lagertheorien sind nicht mehr schlüssig, weder für Rot-Grün noch für Schwarz-Gelb gibt es zurzeit eigenständige Mehrheiten. Es gibt auch keine Stammwähler mehr.
Jüergen Rüttgers

Stiehlt die AfD den Volksparteien die Schau?

Das sehe ich so nicht. Wir sehen gerade bei den Demonstrationen: Die Leute engagieren sich. Sie gehen wählen, wenn sie sehen, dass es sich lohnt. Die Lagertheorien sind nicht mehr schlüssig, weder für Rot-Grün noch für Schwarz-Gelb gibt es zurzeit eigenständige Mehrheiten. Es gibt auch keine Stammwähler mehr. Es geht nicht, eine Politik zu formulieren, die arrogant ist und die Bürger überfordert. Und es hat auch keinen Sinn, auf die asymmetrische Mobilisierung zu setzen. Unterm Strich heißt das, dass wir auf der einen Seite weiter kämpfen müssen gegen Antisemitismus, Rechtsradikalismus und Nationalismus, gleichzeitig aber eben auch für Demokratie und Freiheit.

Naja, Ihre Partei fällt ja durchaus auf, zuletzt mit der Debatte um eine verpflichtende Leitkultur. Was halten Sie denn davon?

Es ist richtig, dass jede Partei ihr eigenes Profil pflegen muss. Und auf der Ebene unserer Grundwerte ist das, was uns auch in Zukunft trägt, Demokratie und Freiheit. Notwendig ist wieder Vertrauen und Führung.


Zur Person

Prof. Jürgen Rüttgers (CDU), 1951 in Köln geboren, war von 1994 bis 1998 Bundesforschungsminister und von 2005 bis 2010 Ministerpräsident von NRW.  Seit 2014 lehrt er in Bonn als Honorarprofessor Politische Wissenschaft. Rüttgers wohnt in Pulheim und engagiert sich ehrenamtlich unter anderem für das Brauweiler Abteijubiläum in diesem Jahr. In seinem neuen Buch „Transformationen“ (Herder Verlag, 253 S., 20 Euro) beschreibt er Wege zu einem technologieaffinen, sozialen und ökologischen Wachstumsmodell.

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