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Interview mit Kevin Kühnert„Wir können absurde Flugverbindungen streichen“

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Kevin Kühnert (Archivbild)

  1. Kevin Kühnert ist Juso-Chef und stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD.
  2. Im Interview erzählt er von der Corona-Krise, Klimaschutz und seiner Kandidatur für den Bundestag.

Herr Kühnert, Sie haben vor einem Jahr tagelang die Schlagzeilen bestimmt, weil Sie in einem Interview die Kollektivierung von BMW und anderen Unternehmen forderten. Was hat sich seitdem geändert an Ihrer Sichtweise?

Kühnert Mit der Corona-Krise ist seitdem viel passiert. Vor diesem Hintergrund rufen sogar einzelne Konzernchefs heute nach staatlicher Beteiligung, allerdings aus vollkommen anderen Motiven. Mir geht es auch unabhängig von Corona immer noch um eine Demokratisierung von Wirtschaft, also um mehr Mitbestimmung für die Beschäftigten. Und die Krise zeigt jetzt, dass das richtig ist.

Inwiefern?

Kühnert Unternehmen, in denen starke Mitbestimmung durchgesetzt wurde, und Branchen, in denen die Gewerkschaften stark sind, schaffen in der Krise meist mehr Sicherheit für Arbeitnehmer. Die Beschäftigten bekommen häufig trotz Kurzarbeit nahezu volle Löhne ausgezahlt. Und in solchen Betrieben werden jetzt auch keine Arbeitsplätze abgebaut. Insofern bleibt das Ziel eine stärkere betriebliche Mitbestimmung. Wobei ich betonen möchte, dass ich das Beispiel BMW damals selbst nicht gebracht habe.

Die Autobranche hat trotzdem gekocht und fordert heute Kaufprämien. Was ist Ihre Prognose: Wird es die Prämien geben?

Kühnert Jedenfalls wird es keine neuen Zuschüsse nach dem Modell der Abwrackprämie aus dem Jahr 2009 geben. Da bin ich mir sicher. Und wenn es andere Zuschüsse geben wird, braucht es im Gegenzug auch Hilfen für Menschen, die sich kein neues Auto kaufen wollen oder können.

Wie könnten solche Hilfen aussehen?

Kühnert Das könnten Preisnachlässe bei Abo-Tickets im öffentlichen Nahverkehr, einzelne Freifahrten mit der Bahn oder Hilfen bei Fahrradreparaturen sein. Das Mindeste, was als Konsequenz aus einem Jahr Klimadebatte folgen muss, ist, dass wir nicht mehr alleine auf das Auto setzen, wenn es um Mobilität geht.

Also hat der Staat jetzt die Chance, Weichen für mehr Klimaschutz zu stellen?

Kühnert Ja, ich begrüße es, dass die Kanzlerin die Einsparziele für 2030 noch einmal nachschärfen will und hoffe, sie setzt sich damit bei ihren Leuten in CDU und CSU durch. In Frankreich bekommt die Air France ein umfangreiches staatliches Hilfsprogramm – mit der Auflage, kurze Inlandsflüge zu streichen. In Verbindung mit einem Ausbau des Schienennetzes kann das auch ein Modell für Deutschland sein. Das wäre zeitgemäß.

Was schwebt Ihnen genau vor?

Kühnert Wir müssen die Bahnkapazitäten weiter aus- und Flugstrecken innerhalb Deutschlands allmählich abbauen. Die ICE-Verbindung zwischen Berlin und München hat keinen Zeitnachteil mehr gegenüber einem Flug auf der Strecke. Wir brauchen viel mehr solcher Sprinter-Bahnverbindungen zwischen Großstädten.

Und dafür können wir absurde Flugverbindungen wie zwischen Nürnberg und München streichen. Geschäftsleute, die solche Flüge buchen, merken doch gerade, dass Videokonferenzen auch funktionieren. Die gesellschaftliche Akzeptanz für solche Entscheidungen ist meines Erachtens längst gegeben.

Wenn die Corona-Krise vorüber ist, drohen eine höhere Arbeitslosigkeit und schärfere Verteilungskämpfe. Was muss aus Ihrer Sicht kommen, das die Gesellschaft zusammenhält?

Kühnert Die Krise macht die Verletzlichkeit unserer Gesellschaft offenbar. In diesem Fall ist es ein Virus. Aber auch die Klimakatastrophe zeigt, dass wir beispielsweise durch eng verbundene Lieferketten weltweit diverse Achillesfersen als Gesellschaft haben. Und gleichzeitig gibt es Kernbestandteile unseres Zusammenlebens, die unverzichtbar sind.

Und das wären?

Kühnert Dazu zähle ich die Gesundheitsversorgung, das Recht auf Bildung auch jenseits von Schul- und Universitätsgebäuden, die Mobilität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und so weiter. Diese Elemente unseres Gemeinwohls muss ein starker Staat gegen ganz unterschiedliche Gefahren absichern – das ist Kernpunkt sozialdemokratischer Politik.

Unser Generalsekretär Lars Klingbeil beginnt jetzt mit einer Reihe digitaler Expertengespräche, aus denen Ideen für das SPD-Wahlprogramm entstehen sollen. Und nicht aus Zufall beginnen wir da am Dienstag mit dem Thema Gemeinwohl.

Was soll beispielsweise im Gesundheitssektor passieren?

Kühnert Da geht es erstmal ganz banal um die Bevorratung von medizinischem Material wie Schutzmasken. Bevorratung bringt immer Kosten mit sich, ja. Die Folgekosten können aber andernfalls, wie wir jetzt sehen, ungleich höher ausfallen. Wir sehen auch, dass die Bezahlung von Pflegekräften insgesamt besser werden muss. Denn die Ausschüttung von Prämien sorgt da eigentlich für noch mehr Unmut, weil beispielsweise die Krankenpflege jetzt erstmal leer ausgeht.

Also hätte man es besser lassen sollen?

Kühnert Ich finde den Impuls verständlich, aus Applaus vom Balkon auch eine finanzielle Anerkennung werden zu lassen. Was wir aber tatsächlich brauchen, sind bessere Tarifverträge und anhaltend auskömmliche Bettenkapazitäten. Die retten uns übrigens gerade in der Krise. Nachdem man jahrelang aus Kostengründen über Krankenhausschließungen sprach, tingelt jetzt Jens Spahn weltweit durch die Medien und erklärt dort, dass Deutschland auch deshalb so gut durch diese Krise kommt, weil es hier so viele Intensivplätze gibt.

Was gestern noch zu teuer war, ist plötzlich ein Erfolgsfaktor. Das sollten wir uns gut merken. Wir benötigen aber grundsätzlich deutlich mehr öffentlich finanzierte Grundversorgung in der Gesundheit, bei der Mobilität auf dem Land oder bei der Internetversorgung in Dörfern, wo Schülerinnen und Schüler im Moment merken, dass sie wegen schlechter Netzqualität Nachteile beim Homeschooling haben.

Solche Reserven und Leistungen sind sehr teuer. Der Bundeshaushalt könnte sich verdoppeln.

Kühnert Aus guten Gründen ist die Schuldenbremse mittlerweile ausgesetzt. Denn das Schielen auf jeden einzelnen Haushalt verkennt, dass es langfristig viel teurer wäre, solche Reserven nicht zu bilden oder Investitionen liegenzulassen. Menschen und Unternehmen ziehen aus den ländlichen Regionen in die Ballungszentren, wenn die Infrastruktur nicht stimmt.

Zurückbleibende Menschen vereinsamen, werden krank. Und wenn ein Kind ein Jahr lang nur unregelmäßig Unterricht hatte, wirkt sich das nachweislich auf das spätere Einkommen aus, wie eine Studie belegt. Das bedeutet weniger Wertschöpfung und weniger Einnahmen für unser Gemeinwesen.

Was erwarten Sie also von Olaf Scholz als Finanzminister?

Kühnert Die SPD brauchte keine Corona-Krise, um den Bedarf an Investitionen zu erkennen und erste Maßnahmen durchzusetzen. Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans haben dem als neue Vorsitzende mehr Geltung verschafft. Und Olaf Scholz macht im Moment mit Investitionen gegen künftige Krisen goldrichtige und erkennbar keynesianische Politik, die es auch künftig zu verteidigen gilt.

Die SPD droht nach dem geräuschvollen Abgang von Chefhaushälter Johannes Kahrs in alte Grabenkämpfe zwischen konservativ-pragmatischen und linken Sozialdemokraten abzurutschen. Was ist zu tun und wen sehen Sie dabei in der Verantwortung?

Kühnert Johannes Kahrs hat seinen Rückzug aus der aktiven Politik damit begründet, nicht für das Amt des Wehrbeauftragten berücksichtigt worden zu sein. Das ist zu respektieren. Manchmal gibt es Konstellationen in der Politik, die lassen sich nicht im Sinne aller auflösen.

Es geht doch um mehr als nur das Amt des Wehrbeauftragten.

Kühnert Es geht jetzt um diesen einzelnen Vorgang. Eine Grundsatzdebatte zwischen den Flügeln über den Kurs der Partei kann ich nicht erkennen. Der Rückhalt für die neue Partei- und Fraktionsspitze ist groß und die Zusammenarbeit sehr intensiv – das war auch schon mal anders. Ich finde es zu einfach und auch etwas unpolitisch, jeden Konflikt zur Grundsatzdebatte aufzublasen.

Sind Sie angesichts der Krise froh, dass es noch die große Koalition unter der Führung von Angela Merkel gibt?

Kühnert Ich habe nie Angela Merkel und ihre Partei gewählt und bin kein Freund vom „kleineren Übel“. Deshalb kann ich auch nicht glaubwürdig in die etwas melancholischen Lobeshymnen über sie einstimmen. Tatsächlich hat die große Koalition in dieser Krise aber eine andere Arbeitsweise an den Tag gelegt.

Es ist die Stunde der Ressortchefinnen und -chefs, die mit guten Ideen aus ihren Ministerien Lösungen beisteuern können. Damit entfallen manche Mechanismen, die ich immer kritisiert habe – etwa wenn Vorhaben der SPD gegen Vorhaben der Union in einem Kuhhandel getauscht wurden.

Wann will die SPD angesichts des langen Prozesses in der Union darüber entscheiden, wer die Partei als Kanzlerkandidat in die nächste Bundestagswahl führt?

Kühnert Wir haben immer gesagt, dass wir das in diesem Jahr erledigen werden und dabei bleibt es auch. Das Jahr ist noch lang. Wir werden die Entscheidung aber weder unterm Weihnachtsbaum fällen, noch in wenigen Wochen ein Ergebnis haben. Im Übrigen hätte zu recht niemand Verständnis dafür, wenn sich die SPD in Zeiten, in denen Existenzängste herrschen, vor allem um sich selbst Gedanken macht.

Vor der Corona-Krise hat Olaf Scholz sich ja mal selbst ins Spiel gebracht. Finden Sie denn, dass er seinen Job derzeit so gut macht, dass er auch ein geeigneter Kanzlerkandidat wäre?

Kühnert Ich finde, er macht seinen Job grad ziemlich gut.

Und Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans würden einen Kanzlerkandidaten Scholz mittragen?

Kühnert Ich bin ihr Stellvertreter und nicht ihr Pressesprecher.

Das ist schon klar. Deswegen kennen Sie die beiden gut. Können die trotz des zurückliegenden Wettbewerbs um den Parteivorsitz miteinander?

Kühnert Die Zusammenarbeit zwischen Parteispitze und Olaf Scholz funktioniert sehr viel besser als manche offenbar glauben wollen. Hier herrscht nicht nur ein Burgfrieden. Und wenn es etwas zu klären gibt, dann behelligen wir nicht die ganze Nation damit.

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Sie selbst haben angekündigt, für den Bundestag kandidieren zu wollen und nicht etwa erst in der Berliner Landespolitik an den Start zu gehen. Warum?

Kühnert Ich werde mich um eine Kandidatur bewerben. Als stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD und als Juso-Bundeschef habe ich meinen Fokus auf der Bundespolitik, als Kommunalpolitiker kümmere ich mich um meinen Heimatbezirk in Berlin Tempelhof-Schöneberg. Das ergänzt sich gut und erdet auch. Ich bin aber kein Titelsammler, der es auf einen weiteren Eintrag in der Biografie abgesehen hat. Ich bewerbe mich, weil ich meine, im Interesse des Gemeinwohls etwas beitragen zu können.

Und Sie wollen Juso-Chef bleiben?

Kühnert Ich bin der gewählte Vorsitzende der Jusos. Nach fünf Monaten im Amt des Parteivizes scheint mir die Akzeptanz für diese Konstellation bei den Jusos auch weiterhin groß zu sein. Ich habe versprochen, dass das Amt meine Überzeugungen nicht verändert. Daran lasse ich mich messen.