Ukraine-KriegWie andere Länder Europas die deutsche Haltung bewerten

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Baerbock bei der UN

Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock bei der Rede vor der UN-Vollversammlung 

Deutschland hat angesichts des Ukraine-Krieges eine Zeitenwende eingeläutet, will die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro aufrüsten, Waffen in Konfliktregionen schicken und sich vom russischen Gas lösen: Wie bewerten unsere Nachbarn diese Schritte und wie gehen sie außen- und innenpolitisch mit der Krise um? Wir haben einige unserer Korrespondenten dazu befragt.

Frankreich

von Birgit Holzer

Die historische Kehrtwende Deutschlands wurde in Frankreich wohlwollend anerkannt. Das Land nehme endlich „seine Verantwortung an, die ihm sein Rang als erste Wirtschaftsmacht des Kontinents, aber auch das ganze Gewicht seiner Geschichte verleiht“, gibt die Zeitung „Le Monde“ die weit verbreitete französische Sicht wieder.

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Auch die Franzosen zeigen sich erschüttert über Wladimir Putins grausamen Krieg. Präsident Emmanuel Macron sprach in einer TV-Rede von einem „Bruch für unseren Kontinent“ und sicherte den Bürgern Schutz zu. Dennoch bereitet die Regierung sie auf wirtschaftliche Konsequenzen vor, insbesondere auf Preissteigerungen bei Gas, Öl, Benzin und Rohstoffen. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire drohte sogar einen „totalen Wirtschafts- und Finanzkrieg“ an, bevor er sich für seine drastische Wortwahl entschuldigte.

Bereits im Herbst wurden die Folgen der Inflation vor allem für ärmere Haushalte mit „Energie-Schecks“ und einer Deckelung der Gas- und Strompreise abgefedert. Ähnliche Maßnahmen könnten folgen, Macron versprach einen „Plan der sozialen und wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit“. Höhere Investitionen in die Verteidigung über das bestehende Ziel hinaus, das Militärbudget ab 2023 um drei Milliarden Euro jährlich zu erhöhen, kündigte er aber nicht an. Der Präsident wiederholte seine Forderung, die EU müsse in ihrer Verteidigung unabhängiger werden. Darum soll es bei einem Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Versailles gehen, das er am Donnerstag und Freitag im Rahmen der französischen EU-Ratspräsidentschaft organisiert. 

Großbritannien

von Susanne Ebner

Die Briten waren über die Invasion Russlands weniger überrascht als andere Länder. Denn dort stehen Politik und Medien dem Kreml schon seit Jahren skeptisch gegenüber. Gründe dafür sind unter anderem die Nähe der Briten zu den USA sowie die Giftanschläge auf die russischen Ex-Agenten Alexander Litwinenko und Sergej Skripal auf britischem Boden, die mutmaßlich durch den Kreml verübt wurden.

Dementsprechend nimmt Großbritannien eine wesentliche Rolle im strategischen Umgang mit dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine ein. Die britische Außenministerin Liz Truss betonte bei ihrem Besuch in Litauen, dass Großbritannien das erste Land gewesen sei, dass das die Ukraine militärisch unterstützt habe, und begrüßte in diesem Zusammenhang die neue Strategie Deutschlands.

Sie machte aber auch klar, dass man in Hinblick auf weitere Sanktionen „den Fuß auf dem Gas“ lassen müsse. Die britische Agenda angesichts des Krieges umfasse drei Maßnahmen: Die Ukrainer sollen dabei unterstützt werden, sich verteidigen zu können. Man müsse die Abhängigkeit von Öl, Gas und Kohle verringern und der russischen Wirtschaft den Hahn zudrehen. Deshalb wolle man nun auch die Zentralbank der Russischen Föderation (CBR) ins Visier nehmen. Beobachtern zufolge sollte die britische Regierung auch bei Putin-nahen Oligarchen härter durchgreifen. Tatsächlich verhängte die EU sogar schneller Sanktionen gegen reiche Russen, die dem Kreml nahe stehen – trotz Brexit, der es Großbritannien, so die Rechtfertigung, ja eigentlich ermöglichen sollte, flexibler zu handeln. Innerhalb der Bevölkerung reagiert man hilfsbereit, jedoch etwas weniger ängstlich als in Deutschland auf den Krieg. Beobachtern zufolge hat dies geografische Gründe. Außerdem sei Russland noch nie in britisches Territorium eingedrungen. Wirtschaftlich bekommen die Menschen die Folgen jedoch durchaus zu spüren, beispielsweise durch rasant steigende Benzinpreise. 

Schweden/Finnland

von André Anwar

Schweden rüstet nach einer langen Phase umfangreicher Abrüstung wieder kräftig auf. Laut einer Umfrage ist ein Drittel des Volkes sehr besorgt darüber, dass es zu einem Angriff durch Russland kommen könnte. Auch Finnland, das eine 1300 Kilometer lange Grenze mit Russland verbindet, zeigt sich alarmiert.

Die Neutralität wird in beiden nordischen Ländern, die in jüngster Zeit eine enge Zusammenarbeit mit der Nato anstreben, wieder in Frage gestellt. „Unsere Länder sind nicht direkt bedroht, aber es ist klar, dass wir die Sicherheit in unserer Region gemeinsam bewerten müssen“, sagte die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin. Eine Nato-Mitgliedschaft sei jedoch „nicht aktuell“ der Wunsch, stellte die Sozialdemokratin fest.

Auch wenn das bürgerliche Lager in Schweden schon seit langem auf eine Nato-Mitgliedschaft drängt, hält auch die dortige sozialdemokratische Regierungschefin Magdalena Andersson am Neutralitätskonzept fest.

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Gerade in der derzeitigen Situation sei es „wichtig, dass Schwedens langjährige Sicherheitspolitik standfest bleibt“, sagte sie. Bei Gesprächen zwischen Andersson und Marin in Helsinki am Wochenende sei man sich einig geworden, dass sich beide Länder bei der Nato als „besonders wichtige Nicht-Mitglieder“ bewerben wollen, heißt es. Auch Japan und Südkorea haben einen ähnlichen Status. Er würde den nordischen Ländern etwa vereinfachteren Zugang zu Rüstungsgütern aus den USA verschaffen. Einige finnische Politiker, darunter auch Präsident Sauli Niinistö, sehen eine Abstimmung über eine Nato-Mitgliedschaft angesichts möglicher russischer Einflussnahmen als zu riskant an. Immerhin: Laut Umfrage befürwortet dies eine Mehrheit, nur 28 Prozent sind eindeutig gegen die Nato-Mitgliedschaft. 

Türkei

von Susanne Güsten

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sieht im Ukraine-Krieg keinen Grund für eine politische Kehrtwende – doch die wirtschaftlichen Folgen des Konflikts könnten ihm gut ein Jahr vor den nächsten Wahlen innenpolitisch schaden. Deshalb setzt die Türkei ihre guten Beziehungen zu beiden Kriegsparteien ein, um als Vermittler ein Ende des Krieges zu erreichen.

Ankara hat den russischen Angriff auf die Ukraine verurteilt und humanitäre Hilfsgüter nach Kiew geschickt. Die Türkei beteiligt sich aber nicht an den amerikanischen und europäischen Sanktionen gegen Moskau und hält seinen Luftraum für russische Maschinen geöffnet. Damit will Erdogan vor allem die als Devisenbringer wichtige Tourismusbranche retten, die in diesem Jahr auf das erste gute Sommer-Geschäft nach der Pandemie hoffte. Doch wegen des Krieges gibt es kaum Hotelbuchungen aus Russland und der Ukraine, zwei der wichtigsten Herkunftsländer von Türkei-Urlaubern.

Auch steigende Energie- und Weizenpreise wegen des Krieges belasten die türkische Wirtschaft, die ohnehin unter einer Inflation von mehr als 50 Prozent und Versorgungsmängeln leidet. Laut Umfragen sinkt Erdogans Beliebtheit bei den Wählern. Der Präsident hofft, dass er das Steuer rechtzeitig vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni kommenden Jahres herumreißen kann. Ein langer Krieg würde das erheblich erschweren. Seit Ende Februar hat Erdogan sowohl mit Kremlchef Wladimir Putin als auch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gesprochen. Ergebnisse gibt es nicht, doch Erdogan will sich weiter für einen Waffenstillstand einsetzen. 

Polen

von Jens Mattern

Mehr als eine Million Flüchtlinge überschritten bereits die ukrainisch-polnische Grenze seit der russischen Invasion. Und eine Ende ist nicht abzusehen. Eine „Supermacht der Solidarität“ sei das Land bislang, so die Selbstbeschreibung des Staatssenders TVP Info. In der polnischen Bevölkerung herrscht eine große Hilfsbereitschaft.

Doch die vielen Menschen müssen untergebracht werden und brauchen auch eine Beschäftigung. Der polnische Staat müht sich mit Gesetzeserleichterungen um Jobperspektiven. Allerdings lebten bereits zuvor 1,5 Millionen Ukrainer im Land. Die Exportverbindungen sind trotz Nachbarschaft jedoch nur minimal.

Ob Polen mittel- oder langfristig mit dieser Belastung zurecht kommt, ist unklar. Doch sicher ist: Polen gehörte zu den europäischen Ländern, die sich über Russland keine Illusionen machten. Nach Litauen gehört das Land seit der Krim-Annexion 2014 zu den lautesten Verfechtern einer Westanbindung der Ukraine sowie harter Sanktionen gegen Russland. Der Krieg in der Ukraine führte auch dazu, dass aus der „kalten Schulter“ des US-Präsidenten wieder der amerikanisch-polnische Schulterschluss wurde, der für das Sicherheitsbedürfnis Polens an erster Stelle steht. Joe Biden schnitt die nationalkonservative Regierung in Warschau für lange Zeit, da diese zuvor so unverblümt für eine zweite Amtszeit Donald Trumps getrommelt hatte.

Dass sich Berlin nun doch dafür entschieden hat, Waffen in die Ukraine zu schicken und kein russisches Gas aus der Pipeline Nord Stream 2 zu fördern, ist eine Bestätigung und Genugtuung für Polen. Schließlich war Premierminister Mateusz Morawiecki zuvor nach Berlin gereist, um den Deutschen ins Gewissen zu reden. 

Serbien

von Thomas Roser

Auch im EU-Wartesaal auf dem Westbalkan sorgt der Berliner Kurswechsel für Gesprächsstoff. Von einer „historischen Wende um 180 Grad“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik spricht das Portal von Serbiens staatlichem TV-Sender RTS: „Die Vorstellung, dass Deutsche Waffen liefern, um Russen zu töten, wäre vor einigen Wochen undenkbar gewesen.“

Der Zeitenwende durch den Ukraine-Krieg ist sich auch Belgrad bewusst.

„Die ganze Welt hat sich völlig verändert“, konstatiert Präsident Aleksandar Vucic. Am Lavieren zwischen Ost und West hält der russophile EU-Anwärter dennoch fest. Serbien gebe „der territorialen Integrität der Ukraine die volle Unterstützung“ und werde „keinerlei Sanktion gegen Russland“ verhängen, so Vucic. Im Ukraine-Krieg fühlt sich Belgrad in einer Zwickmühle. Einerseits fordert die EU von ihrem Beitrittskandidaten die Angleichung an die gemeinsame Außenpolitik – einschließlich der Übernahme der Russland-Sanktionen. Andererseits erwartet Moskau für die gewährte Schützenhilfe im Kosovo-Konflikt von Belgrad Loyalität – samt Ablehnung der Sanktionen.

Schon vor Kriegsausbruch hat Serbien seine Armee in den letzten Jahren kräftig aufgerüstet – oft mit ausgedientem Kriegsgerät aus Russland. Laut einer Umfrage fürchten zwei Drittel der Serben, dass der Ukraine-Krieg zum Weltkrieg ausarten könne. Ihre Ängste treiben sie indes weniger auf die Straße als in die Supermärkte: Vergangene Woche kam es zu Hamsterkäufen von Mehl – und langen Warteschlangen vor den Tankstellen. Zwar warnen Analysten, dass das Land nicht weiter auf zwei Stühlen sitzen könne. Doch obwohl Serbien seine EU-Perspektiven aufs Spiel zu setzen droht, ist Belgrad zu einem Kurswechsel noch nicht bereit. Von der Kürzung der Vor-Beitrittsmittel über den Entzug der Visa-Befreiung bis hin zur Aberkennung des Kandidatenstatus soll die Palette der angedrohten Daumenschrauben reichen, mit denen die EU Serbien in die Sanktionsfront zwingen will. 

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