Zwei Jahre nach dem Überfall auf die UkraineWie Russland das westliche Zögern ausnutzt

Lesezeit 8 Minuten
: Auf diesem vom ukrainischen Katastrophenschutz zur Verfügung gestellten Foto arbeiten Feuerwehrleute an einem brennenden Gebäude nach einem russischen Angriff.

Ein Land unter Dauerfeuer: Drei Menschen starben in der Nacht zum Freitag bei einem russischen Drohnenangriff auf Odessa.

Vor zwei Jahren, am 24. Februar 2024, überfiel Russland die Ukraine. Seit zwei Jahren wehrt sich das Land verzweifelt - und kämpft derzeit mit massivem Munitionsmangel. Aber auch die vermeintlich übermächtigen Angreifer haben große Probleme.

„Murz“ ist wohl nicht mehr unter den Lebenden. In einem Abschiedsbrief begründete der russische Unteroffizier und Militärblogger Andrej Morosow seinen Freitod: Er durfte nicht mehr schreiben, wie es an der Front aussieht. Morosow alias „Murz“, ein scharfer, ultranationalistischer Kritiker des russischen Verteidigungsministeriums, hatte publik gemacht, dass bei der Eroberung des vollständig zerstörten ukrainischen Städtchens Awdijiwka 16 000 russische Soldaten den Tod gefunden hätten – ein durchaus realistischer Wert. Um diesen Preis war Russland etwa vier Kilometer vorangekommen. Nun seine dem Anschein nach letzten Worte: Ein namentlich nicht genannter Oberst habe von ihm verlangt, seine Ausführungen auf dem Kanal Telegram zu löschen, sonst bekomme seine Einheit keinen Nachschub mehr.

Die Episode zeigt: Die russische Militärführung mag ihren Erfolg bei Awdijiwka feiern, und die Ukraine mag auf den Mangel an Munition hinweisen, der den Verlust der Stadt mit ermöglicht hat. Aber die russische Bilanz ist fürchterlich. Noch bis Ende Januar waren die Russen mit ihren Vorstößen immer wieder gescheitert. Am 17. Februar teilte der neue ukrainische Generalstabschef Oleksandr Syrskyj dann den Rückzug mit, der da wohl schon abgeschlossen war. Mit Datenstand vom 16. Februar hatte Russland vor Awdijiwka 666 schwere Waffensysteme und Fahrzeuge (davon 224 Panzer) nachweislich verloren, so der Analyst Naalsio unter Bezug auf Daten des Portals Oryx. Die Ukraine verlor im gleichen Zeitraum dort 57 Fahrzeuge und schwere Waffensysteme. Ein ähnliches Bild zeigt sich übrigens an dem kleinen Dnipro-Brückenkopf bei Krynky, den die Ukrainer zäh halten, obwohl der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu Anfang dieser Woche von einer Einnahme des Ortes fabuliert hatte. Hier haben die Russen bisher 216 schwere Einheiten verloren, die Ukrainer 47.

Russische Offensive auf mehreren Achsen

Diese Zahlen sind Hoffnungsschimmer in der schwierigen Lage, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich bei einem Frontbesuch eingeräumt hat. „Erstmals seit mehr als anderthalb Jahren führen die russischen Kräfte wieder eine zusammenhängende Offensivoperation auf mehreren Achsen durch und versuchen damit, operativ signifikante Ziele zu erreichen“, hat das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) festgestellt. Das unterscheidet die aktuelle Lage von der chaotischen russischen Winteroffensive des letzten Jahres, der einziger später Ertrag dann im Sommer die Einnahme von Bachmut war. Allein im Osten der Ukraine versuchten die Russen nun auf vier Achsen voranzukommen. Offensichtliches Ziel: die erneute Einnahme von Gebieten, die die Ukraine im Herbst 2022 befreien konnte. Russland hat laut ISW derzeit genug Männer und Material, um diese Angriffe unabhängig voneinander zu führen – anders als vor Awdijiwka, wo die russische Führung immer wieder Lücken mit andernorts abgezogenen Truppenteilen füllen musste. Und wenn die Russen den Fluss Oskil erreichen, an dem auch der strategisch wichtige Bahnknoten Kupjansk (Bezirk Charkiw) liegt, hätten sie eine für sich äußerst vorteilhafte Frontlinie erreicht und könnten Truppen für weitere Angriffe in andere Teile der Ukraine verlegen, so das Institut.

Alles zum Thema Olaf Scholz

Die Russen nützten „Verzögerungen bei der Hilfe für die Ukraine aus“, hatte Selenskyj gesagt. Konkret beklagte er einen Mangel an Artilleriegeschossen, Flugabwehrsystemen und weitreichenden Raketen. Auch wenn die frisch mobilisierten russischen Soldaten schlecht ausgebildet sind, bleibt der Ukraine derzeit im Bodenkrieg nur das Modell Awdijiwka: Zähe Verteidigung mit dem Ziel, den Angreifern möglichst hohe Verluste zuzufügen. Selbst Kyrylo Budanow, der immer für optimistische Aussagen gute Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, spricht erst für das Jahr 2025 von der Chance für eine neue ukrainische Gegenoffensive.

Auch russische Rüstungskapazitäten sind begrenzt

Wer hält das so lange durch? Russlands Ziel sei es, die westlichen Unterstützer der Ukraine zu ermüden und so eine Begrenzung ihrer Hilfslieferungen zu erreichen, schreiben die Forscher Jack Watling und Nick Reynolds vom britischen „Royal United Services Institute“. Umgekehrt setzt Budanow darauf, dass auch die russische Militärmacht sich abnützt. Ein Indiz dafür ist das Auftauchen immer älterer Panzermodelle an der Front – zuletzt T-55 und sogar T-54, also 70 Jahre alte Gefährte. Derzeit, so Watling und Reynolds, könne Russland pro Jahr etwa 1500 zusätzliche Panzer an die Front werfen – wohlgemerkt zu einem großen Teil repariertes Altgerät. Allerdings würden die Russen im Lauf des Jahres 2024 feststellen, dass gut erhaltene Panzer in den Depots rar würden. 2025 werde man dann sehr viel mehr Mühe mit der Instandsetzung haben, „und 2026 werden die Bestände zum größten Teil erschöpft sein“. Auch erreiche die russische Rüstungsindustrie bei weiterem nicht die vom Verteidigungsministerium gesetzten Produktionsziele bei der Munition, zum Beispiel vier Millionen Artilleriegeschosse des Kalibers 152 Millimeter pro Jahr. Geliefert würden 2024 wohl 1,3 Millionen. Auch hier müsse Russland in die Lager greifen und finde dort oft Munition in schlechtem Zustand vor.

Abnutzung gibt es also auf beiden Seiten, und sie könnte für Russland 2025 stärker spürbar werden – das ist der Hintergrund für Budanows Zeitangabe. Die westlichen Partner der Ukraine bringen ungefähr das 20-Fache der Wirtschaftsleistung Russlands auf die Waage, mit ihrer Hilfe müsste die Ukraine also mehr als nur standhalten können. Aber weitere US-Hilfe ist ungewiss, und Bundeskanzler Olaf Scholz zog in der „Financial Times“ jüngst gemeinsam mit einigen nordeuropäischen Regierungschefs eine wenig erfreuliche Bilanz der EU-Zusage, die Ukraine bis Ende März 2024 mit einer Million Artilleriegeschosse zu versorgen. „Die bittere Wahrheit ist: Wir haben dieses Ziel nicht erreicht“, schrieben die Politiker. Ein paar Tage später bot Tschechien Gespräche über die Abgabe von 800 000 Geschossen aus eigenen Vorräten  an. 

Was westliche Waffentechnik bewirken kann

Bei Awdijiwka war Mangel nicht nur an Artilleriegeschossen spürbar, sondern auch bei der Luftabwehr. Die russischen Angreifer setzten den Ukrainern mit Gleitbomben zu, die in großer Entfernung vom Kampfgebiete ausgelöst werden können. Bekämpfen lassen sich solche Angriffe nur mit den raren Patriot-Raketen, die auch zur Verteidigung gegen ballistische Raketen gebraucht werden. Erst in den letzten Tagen, im Zusammenhang mit der Räumung von Awdjijiwka und kurz danach, entschied sich die ukrainische Führung offenbar, diese Systeme verstärkt einzusetzen – und holte kurz nacheinander sieben russische Kampfjets und Bomber vom Himmel.

Welchen strategischen Erfolg westliche Waffenlieferungen bewirken können, hat sich auf der Krim gezeigt. Es waren Marschflugkörper „Storm Shadow“ und „Scalp“ aus Großbritannien und Frankreich, die im Verbund mit von der Ukraine selbst gebauten Drohnen und den verwegenen Aktionen ukrainischer Marineinfanteristen dafür gesorgt haben, dass die Ukraine der russischen Schwarzmeerflotte und der russischen Militärinfrastruktur auf der Halbinsel schwere Schäden zufügen konnte. Die Ukraine hat die russische Flotten-Kommandozentrale in Sewastopol zerstört, russische Luftabwehrsysteme reihenweise außer Gefecht gesetzt, Fliegerhorste attackiert und mindestens 20 (so die von Oryx akzeptierte, konservativ gerechnet Zahl) russische Kriegsschiffe zerstört oder schwer beschädigt. Solange Krieg herrscht, ist der Bosporus für Kriegsschiffe geschlossen, und Russland kann keine Ersatzschiffe holen. Russland schafft es nicht mehr, ukrainische Getreideexporte im Schwarzen Meer zu blockieren. Durch den Verlust von drei großen Landungsschiffen der „Ropucha-Klasse“ sind auch die Seetransportkapazitäten schwer eingeschränkt.

Was aus ukrainischer Sicht noch fehlt, ist die Zerstörung der von Russland illegal errichten Brücke von Kertsch und der Krim-Übergänge zum ukrainischen Hinterland. Mit einem britisch-französischen Marschflugkörper haben die Ukrainer die Krim-Brücke von Tschonhar im August 2023 schwer beschädigt, aber sie blieb stehen. Bei einem Angriff mit einem deutschen „Taurus“ wäre sie wohl zusammengebrochen, denn nur dessen Zündsystem kann nach dem Durchschlagen einer Brücken-Fahrbahnplatte gezielt Pfeiler oder Widerlager demolieren.

Ukrainer greifen russische Logistik an

Während Russland auf eine Materialschlacht am Boden ohne Rücksicht auf eigene Menschenleben und auf den Raketenbeschuss ukrainischer Städte setzt, versuchen die Ukrainer so viel Boden wie möglich zu halten und die russische Logistik zu schwächen. Auch wenn die westlichen Rüstungslieferungen zunehmen würden, bliebe ein Handicap: Über russischem Gebiet darf Kiew nicht mit West-Waffen operieren. Weder die USA noch Deutschland oder Großbritannien wollen das politische Risiko einer solchen Aktion in Kauf nehmen. Angriffe auf russische Rüstungsfabriken und Raffinerien kann die ukrainische Armee daher nur mit eigenen Drohnen ausführen.

Ein Ende ist nicht abzusehen. Vermeintliche Signale der Verhandlungsbereitschaft aus Moskau sind keine. Präsident Wladimir Putin hatte in seinem Tucker-Carlson-Interview ja nur behauptet, der Westen werde die Chancenlosigkeit der Ukraine einsehen und beidrehen. Der Westen, wie gesagt, denn die Ukraine selbst ist für ihn gar kein Gesprächspartner. Umgekehrt gibt es für Kiew zwei zentrale Motive, den Zermürbungskrieg weiterzuführen. Das eine ist die Befürchtung, dass Russland jede Waffenruhe zum Wiederaufbau seiner Militärmacht und zur Vorbereitung neuer Angriffe nutzen könnte. Auch dazu, um nach einer Öffnung des Bosporus neue Kriegsschiffe ins Schwarze Meer zu verlegen. Und der zweite Grund: Was immer von Selenskyjs Ankündigungen zu halten ist, alle besetzten Gebiete befreien zu wollen – politisch aufgeben kann er sie nicht. Es geht um Millionen ukrainischer Staatsbürger, die einem verbrecherischen Besatzungsregime ausgeliefert sind. Das Fenster für territoriale Konzessionen hat sich im Frühjahr 2022 mit dem von russischen Truppen verübten Massenmord in den Kiewer Vororten geschlossen. Das hat der damalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett, der sich um Vermittlung bemüht hatte, klar formuliert: Als die Gräueltaten bekannt wurden, habe er gewusst, „es ist vorbei“.

Neue russische Aggression in Moldawien?

In Moldawien, einem südlichen Nachbarland der Ukraine, betreibt Russland bereits seit 1990 eine Politik der Destabilisierung und unterstützt einen von prorussischen Freischärlern kontrollierten und von russischen „Friedenstruppen“ besetzten Pseudo-Staat namens Transnistrien. Die Lage könnte sich bedrohlich zuspitzen: Am 21. Februar (Mittwoch) erklärte die Führung der Rebellenrepublik, die Lage habe sich seit Jahresbeginn „massiv verschlechtert“, und kündigte eine außerordentliche Deputiertenversammlung für den 28. Februar an. Im schlimmsten Fall, so das Institute for the Study of War, könnten damit die Voraussetzungen geschaffen werden, um eine Annexion durch Russland vorzubereiten. Die erste Gelegenheit für eine solche Ankündigung wäre die vom russischen Präsidenten Wladimir Putin geplante Rede an die Nation am 29. Februar, allerdings hält das ISW einen so frühen Zeitpunkt für nicht besonders wahrscheinlich.

Transnistrien ist von Russland durch die Ukraine getrennt, die Versorgung der russischen Truppen dort ist entsprechend schwierig. Dennoch könnte Russland versuchen, die Ukraine auch von einem annektierten Transnistrien aus unter Druck zu setzen und damit den Krieg zu eskalieren. Dmitri Medwedew, der Chef des russischen Sicherheitsrates, machte allerdings am Donnerstag klar, dass ein Land auch Kiew und Odessa als historisch russische Städte beanspruche.