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Nach der EuropawahlDie Grünen in Schockstarre – Erklärungen für den Absturz

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Zwei Mitarbeiter einer Firma für Werbeaufsteller bauen ein Wahlplakat der Partei ·Bündnis 90/Die Grünen· nach der Europawahl ab. Die Grünen haben viele Stimmen verloren.

Zwei Mitarbeiter einer Firma für Werbeaufsteller bauen ein Wahlplakat der Partei ·Bündnis 90/Die Grünen· nach der Europawahl ab. Die Grünen haben viele Stimmen verloren.

Nach Absturz bei der Europawahl sucht die Partei nach Gründen. Nicht alle Erklärungsversuche kommen gut an.

Einigermaßen ratlos steht der Parteivorstand der Grünen dem Absturz bei der Europawahl insbesondere unter jungen Erstwählern gegenüber. Die Partei verlor in der Gruppe der 16- bis 24-Jährigen 23 Prozentpunkte – sie fiel von 34 Prozent 2019 auf jetzt 11 Prozent. Und das, obwohl gerade die Grünen sich für das Wahlrecht ab 16 eingesetzt hatten. Die AfD wiederum erreichte bei den Jugendlichen 16 Prozent, wurde zweitstärkste Kraft nach der Union trotz aller Skandale um ihre Spitzenkandidaten.

Die Grünen verloren insgesamt die meisten Wähler an die Union, fast genauso viele Stimmen ans Lager der Nichtwähler, gefolgt vom Bündnis Sahra Wagenknecht, an das ebenfalls ein großer Teil der Stimmen für sie verloren ging. Immerhin etwa 50000 Menschen wechselten von den Grünen zur AfD. Unter den jungen Wählern wählten fast 30 Prozent Kleinstparteien wie die pro-europäische Partei Volt.

Während die Führungsleute der Grünen sich Zeit nehmen wollen für die Analyse, preschten manche mit ersten Erklärungen vor. Der Ex-Grüne und Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer meldete sich bei „Welt TV“ zu Wort: Für Jugendliche sei Sicherheit das wichtigste Thema. Ihre Lebenswelten von Disco über Stadtpark bis Schulhof hätten sich am meisten verändert, weil junge Zugewanderte Gewalt in diese Lebenswelt gebracht hätten. „Gewalt von Migranten in dieser Zielgruppe ist das Hauptproblem von jungen Menschen, und darum muss sich die Politik kümmern“, sagt Palmer.

Sorgen vor Kriminalität und Inflation gewinnen an Bedeutung

In der Tat haben sich die Prioritäten der Wähler im Vergleich zu 2019 verschoben. Der Klimawandel, damals dringendste Sorge, landet zwar noch immer auf Platz zwei. Auf Platz eins steht jedoch die Sorge vor steigender Kriminalität, auf Platz drei die Sorge, der Islam könne in Deutschland zu viel Einfluss gewinnen. Diese Daten beziehen sich allerdings auf die Bevölkerung insgesamt.

In der Trendstudie „Jugend in Deutschland“, die vor einigen Wochen für Aufregung gesorgt hatte, das jetzige Wahlergebnis aber schon in Teilen vorwegnahm, wurde deutlich, dass die Jugendlichen sich vor allem wegen Inflation und teuren Wohnraums Sorgen um ihre Zukunft machen. Es ist also nicht ganz einfach, aus dem Wahlergebnis eindeutige Schlüsse zu ziehen.

Die jüngste Bundestagsabgeordnete der Grünen, die 26-jährige Emilia Fester, weist Palmers Analyse entschieden zurück. „Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, auf rassistische Kommentare, die wir uns nicht zu eigen machen, einzugehen“, sagte sie unserer Redaktion. Sie sieht es außerdem genau umgekehrt: „Wir mussten gerade in Bereichen, wo junge Menschen starke Hoffnungen in eine grüne Regierungsbeteiligung hatten, teils bittere Kompromisse eingehen, zum Beispiel bei Asylverschärfungen, Klimapolitik und sozialen Kürzungen.“ Die Enttäuschung darüber könne sie „gut nachvollziehen“. Für Fester folgt daraus: „Wir müssen stärker eintreten für grüne Grundwerte und gegen wahllose Sparpolitik.“

Der frühere Grünen-Parteichef und heutige Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir kam im „ZDF Morgenmagazin“ zu einer Analyse, die Palmer näher ist als Fester. Die Grünen müssten zeigen: „Wir können Sicherheit. Wir können Zuwanderung steuern. Entweder können wir’s, dann werden wir auch wieder gewählt. Oder wir können es nicht, und dann verlieren wir auch zu Recht.“ Seine Partei müsse etwa dem Islamismus mit der gleichen Klarheit begegnen wie dem Rechtsextremismus.

Experten: Ringen um Kompromisse muss besser vermittelt werden

Aus dem Parteivorstand wollte sich niemand zu Palmers Analyse äußern, „aus Kapazitätsgründen“. Führende Innenpolitiker der Grünen im Bundestag ließen unsere Anfrage ebenfalls unbeantwortet.

Unterdessen hat sich die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung zu Wort gemeldet. Jan Philipp Albrecht und Dietrich Herrmann sehen in dem Wahlergebnis einen „Weckruf, der nutzbar gemacht werden kann“. Die Grünen seien in der Klimapolitik zum „Prügelknaben der Nation“ geworden, weil zuvor geschürte Erwartungen zu wenig an die neuen Realitäten durch Pandemie, Inflation und Krieg angepasst wurden.

Der Rat der Experten: Gerade jüngeren Menschen, „die Veränderung in der Politik dringlich erreichen wollen und hohe Erwartungen an die Grünen haben“, müsste das Ringen um Kompromisse besser vermittelt werden. Dazu sei weniger „Klein-Klein“, sondern ein Erklären der „langen Linien einer Regierungsarbeit“ erforderlich. Die Grünen müssten ihre Kommunikation anpassen und insbesondere bei jüngeren Wählergruppen „Emotionen ansprechen“.

Parteichef Omid Nouripour hat inzwischen angekündigt, dass die Partei bei Tiktok künftig viel präsenter sein will. Man habe diese Plattform zu lange der AfD überlassen. Aufgeben will er die jungen Wähler keinesfalls. „Als Partei, die auf langfristige Lösungen setzt, bleibt es unser Anspruch, die stärkste bei den Jungen zu sein“, sagt er dem „Spiegel“.