Losheim und ManderfeldWas bedeutet Europa? – Ein Besuch an der deutsch-belgischen Grenze

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Jean-Jacques Rousseau unterrichtet in einem Klassenzimmer in Manderfeld Deutsch für Kinder von Geflüchteten an der Clara Viebig Gemeindeschule.

Was „kein Krieg“ wirklich bedeutet, wissen Jean-Jacques Rousseaus Schüler nicht, wenn sie in Belgien ankommen.

Der Kreis Euskirchen grenzt im Westen an Belgien. Wir begeben uns im Grenzgebiet auf eine Spurensuche nach dem europäischen Geist.

Die Fassaden einiger Häuser bröckeln, die Hecken sind ordentlich gestutzt, es hängen ein paar Wahlplakate zur Europawahl. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die kleinen Eifelorte Losheim und Manderfeld nicht. Sie sind auch nur sechs Kilometer voneinander entfernt. Doch Manderfeld gehört zu Belgien, Losheim zu Deutschland. Seit den Schengener Abkommen spielt die Grenze dazwischen kaum noch eine Rolle. Kann man hier den europäischen Geist besonders gut spüren? Eine Spurensuche.

In der Gemeindeverwaltung im ostbelgischen Büllingen, unweit der deutsch-belgischen Grenze, arbeitet Inge Reuter. Sie kümmert sich um die Belange der Bürger, die in den 27 Ortschaften und Weilern der Gemeinde leben. Die etwa 1300 Einwohner Manderfelds gehören dazu. Reuter hilft einer jungen Frau, die einen Ausweis braucht.

Sie duzt sie. Überhaupt duzen sich alle in dem ostbelgischen Amt. Sie machen Scherze. Man kennt sich hier, oder man lernt sich kennen. Ein älterer Herr hat ein Problem, er spricht kein Deutsch, nur Französisch: „Pas de problème“, antwortet Reuter sofort und führt den Mann in fließendem Französisch durch die Formulare.

Vorgaben werden europaweit nicht einheitlich umgesetzt

Im Rathauszimmer nebenan arbeitet ihr Kollege Horst Reiter. Reiter ist 55 Jahre alt und hat sein ganzes Leben in Manderfeld verbracht. Einiges hat sich in dieser Zeit verändert. Europa ist gewachsen, der Euro wurde eingeführt. Doch für Reiter selbst war das, was Europa ausmacht, an dem Tag am spürbarsten, an dem die letzten Dorfschulen geschlossen wurden.

Es müsse so um 1980 herum gewesen sein, erklärt Reiter, dass in Manderfeld die allererste Gemeinschaftsschule eröffnet wurde. „Und dabei haben wir alle bemerkt, dass wir Kinder aus den kleinen Dörfern uns noch nie zuvor gesehen haben. Und das, obwohl wir so nah aneinander wohnten.“ Damals hat Reiter zum ersten Mal gedacht, dass „Klein-klein-Lösungen“ nicht immer die besten sind.

Bestätigt hat sich das für ihn bei der täglichen Arbeit in der Verwaltung. Die Idee, dass bestimmte Vorgaben in ganz Europa einheitlich sind, findet Reiter gut. Aber nur, solange auch dafür gesorgt wird, dass alles funktioniert. Oft schon habe er an seinem Schreibtisch gesessen, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und sich gefragt: „Das hier soll Europa sein?“

Horst Reiter sitzt hinter dem Schreibtisch der Gemeindeverwaltung Büllingen.

Horst Reiter arbeitet in der ostbelgischen Gemeindeverwaltung.

Ein gutes Beispiel sei die Einführung des neuen Personalausweises - mit Chip und ohne Adresszeile. Bei der Einführung war die Gemeinde Büllingen im europäischen Vergleich früh dran. Doch das führte in der Grenzregion zu einem Problem für Reiter. „Ich war gerade rüber nach Deutschland gefahren, da ging in Hollerath die Kelle raus: Allgemeine Verkehrskontrolle“, erinnert er sich.

Der Polizist nahm seinen Personalausweis entgegen und bemerkte die fehlende Adresse. Der in Belgien vorgeschriebene zusätzliche Ausdruck, der diese aufführte, kam dem deutschen Beamten nicht bekannt vor. „Eine ganze Weile musste der Polizist daraufhin in seinem kleinen Bus verschwinden, um zu telefonieren.“ Reiter lacht.

Bei der Umsetzung vieler EU-weiter Regelungen hapert es noch

An der Umsetzung vieler EU-weiter Regelungen hapere es noch. Wo in Belgien gerade noch die Finger für den Reisepass gescannt würden, seien es in Deutschland schon längst die Augen. Dafür, dass nicht immer alles reibungslos funktioniere, habe er aber Verständnis. Schließlich vermehrten sich die Auflagen in rasender Geschwindigkeit. Die Bürokratie, über die sich die Menschen in Deutschland häufig beschweren, bemerkt Reiter in Belgien inzwischen auch. Früher habe es auf dem Amt noch oft geheißen: „Mit so einem Antrag wärst du in Deutschland nicht durchgekommen.“ Doch mittlerweile, findet Reiter, sind Deutschland und Belgien da auf dem gleichen Level.

Doch bei aller Bürokratie ist längst nicht alles in der EU genormt, wie Sandra Müller in Losheim feststellt. Sie sucht zwei Magazine nach den Preisauszeichnungen ab. Bei einem steht der Preis oben rechts, bei dem anderen am Einband. „Das ist immer ein Puzzle“, sagt der Kunde, der die Hefte kaufen möchte und lacht.

Müller, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, arbeitet im Café Old Smuggler. An diesem Donnerstagvormittag ist hier richtig viel Betrieb. Ein paar Motorradfahrer machen Kaffeepause, eine Familie genießt Erdbeertörtchen. Und obwohl hier so viel los ist, hat Müller Zeit, mit jedem noch einen kurzen Plausch zu halten. Müller mag die Internationalität hier an der Grenze. Und sie mag die Belgier. Am liebsten würde sie bei der Europawahl eine belgische Partei wählen. Doch bei aller europäischen Freiheit: Das ist nicht möglich. Da alleine in Deutschland schon 34 verschiedene Parteien auf dem Wahlzettel stehen, könnte das auch sehr schnell unübersichtlich werden.

In Losheim ist von der Europawahl auf den ersten Blick wenig zu spüren

Von der Europawahl ist in Losheim insgesamt recht wenig zu spüren. Es hängen nur vereinzelt Wahlplakate. Regelrecht mit Wahlplakaten gepflastert hingegen ist eine Hauswand vor der Clara-Viebig-Gemeindeschule in Manderfeld. Im Innern werden mehrere Klassen in einem großen Raum unterrichtet. Die Viertklässler können die Zweitklässler sehen und andersherum. Wände trennen sie nicht.

Hier arbeitet der Deutschlehrer Jean-Jacques Rousseau. „Ja, ich heiße wirklich wie der Philosoph“, sagt er und lacht. Rousseau kommt aus Sourbrodt, nur 30 Minuten Autofahrt von Manderfeld entfernt. Doch 30 Minuten machen in einer Grenzregion manchmal einen großen Unterschied. Rousseau ist zweisprachig aufgewachsen: Die Sprache seiner Mutter ist Deutsch, die Sprache seines Geburtsortes Französisch. „Wir jonglieren hier in den kleinen Gemeinden an der Grenze mit Sprachen und Mentalitäten.“

Anstrengend findet er das nicht, im Gegenteil: „Es ist eine Bereicherung. Man lernt, flexibel zu sein und sich immer wieder neu auf sein Gegenüber einzulassen und ihm entgegenzukommen.“ Das mache auch etwas mit der eigenen Weltsicht und Persönlichkeit, findet er. Und das sei es auch, was Europa für ihn im Kern bedeute: keine hermetisch abgeschlossenen Räume, sondern kultureller Austausch und gegenseitige Befruchtung.

Viele Menschen, die an der Grenze leben, sind zweisprachig aufgewachsen

Zweisprachig aufgewachsen ist auch Guido Schumacher. Er arbeitet in dem Eisenbahnmuseum Ars Tecnica in Losheim, wohnt aber in Belgien. Genauso wie sein jüngerer Kollege Noah Pfeiffer. Hier in Losheim mache sich der europäische Gedanke sehr stark bemerkbar, sagen die beiden. Jeden Tag träfen hier Menschen unterschiedlicher Nationalität aufeinander, ohne dass es zu großen Konflikten komme.

Das war aber nicht immer so. Losheim liegt am Westwall. Im Zweiten Weltkrieg standen sich hier Alliierte und Deutsche gegenüber. Einer, der sich an diese Zeit und vor allem die Jahre danach noch erinnern kann, ist Josef Braun. Ordentlich gekämmtes Haar, gebückter Gang, klarer Blick. Braun ist in Losheim geboren und aufgewachsen und lebt nach wie vor gerne hier. Von seiner Terrasse aus blickt er auf Blumenwiesen und grasende Kühe, dahinter Bäume – typisches Eifelidyll.

Guido Schumacher steht an seiner Modelleisenbahn im Museum Ars Tecnika.

Mag die Internationalität in Losheim: Guido Schumacher.

„Wir leben hier direkt an der Grenze. Die Häuser dahinten, das ist schon Belgien“, sagt er und deutet auf ein paar Dächer auf dem nächsten Hügel. Heute kann man da einfach hin spazieren – der freie Personen- und Güterverkehr in der EU macht's möglich. Davor war das mit dem Grenzübertritt komplizierter.

Seine Familie habe einen landwirtschaftlichen Betrieb besessen und mit diesem auch Ländereien auf belgischer Seite bewirtschaftet, berichtet Braun. Um das zu tun, habe man immer die richtigen Papiere benötigt. Und über den richtigen Grenzübergang fahren müssen. In Losheim gab es drei Grenzübergänge. „Sollte der Zoll kommen und Sie sind über den falschen Grenzstein gefahren, dann hatten Sie ein Problem“, erzählt der 85-Jährige. Vieh über die Grenze zu bringen, sei noch komplizierter gewesen. „Das war ein Papierkram, das können Sie sich nicht vorstellen.“ Seine Familie habe das deshalb auch nie gemacht.

Mit den belgischen Nachbarn sind die Losheimer immer gut klargekommen

Mit den belgischen Nachbarn sei man aber immer gut klargekommen, so Braun. Sicherlich seien die Belgier kurz nach dem Krieg den Deutschen noch nicht wohlgesonnen gewesen. Doch schon 1952 feierten Menschen von beiden Seiten der Grenze am Weißen Stein ein Europafest. Damals stand Losheim sogar noch unter belgischer Sonderverwaltung. In einem vergilbten Ordner findet Braun noch einen alten Ausweis von damals: „Außländer“ steht dort fett und rot unterlegt drauf.

1958 wurde Losheim wieder deutsch. Doch die Verbindung nach Belgien blieb. Noch heute orientieren sich die Losheimer eher ins Nachbarland. „Nach Hellenthal zieht es sie nicht so, auch nicht nach Rheinland-Pfalz“, sagt Braun.

Josef Braun aus Losheim wälzt die Ordner mit den historischen Dokumenten.

Hat in Losheim schon viel erlebt: Josef Braun. Der 85-Jährige ist in dem Eifelort geboren und hat sein Leben hier verbracht.

Losheims Supermarkt steht ziemlich genau auf der Grenze. In den Regalen findet man viele belgische Produkte und der Laden hat belgische Öffnungszeiten: Einkaufen an Sonn-und Feiertagen ist hier möglich. Die Gründung der EU und die Öffnung der Grenze habe Deutsche und Belgier noch mehr miteinander verbunden, sagt Braun. Aber auch schon vorher habe es Freundschaften und familiäre Beziehungen untereinander gegeben. Liebe hört an der Grenze nicht einfach auf.

An der Grenze hört die Liebe nicht auf

Das kann man auch auf dem Friedhof in Manderfeld sehen. Hier gibt es viele deutsche Nachnamen, und ein paar belgische. Besonders häufig aber: deutsch-belgische Doppelnamen. Direkt gegenüber liegt die Clara-Viebig-Schule. Jean-Jacques Rousseau unterrichtet gerade die elf Schüler und Schülerinnen seiner Sprachlernklasse. Sie alle leben aktuell mit ihren Eltern in der Manderfelder Asylunterkunft des Roten Kreuzes.

Ob die Kinder, die Rousseau gerade in Deutsch unterrichtet, überhaupt in der kleinen deutschsprachigen Gemeinde in Belgien bleiben dürfen, ist bisher noch unklar. Das wissen sie. „Meine Aufgabe ist nicht nur, ihnen Deutsch beizubringen, sondern auch, ihnen ein Zuhause zu schaffen – oder zumindest einen Ort, an dem sie sich ausruhen können“, sagt Rousseau.

Für geflüchtete Kinder bedeutet Europa Frieden

Und das ist wichtig, denn die elf Kinder in seiner Klasse im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren, haben Schlimmes erlebt, jedes auf seine Art. Der siebenjährige Majd kam erst vor kurzem aus Palästina nach Manderfeld. Seine Familie ist vor Krieg und Hunger geflüchtet. Yusras Familie ist aus Afghanistan vor den Taliban geflohen. Lange noch ist die aufgeweckte Elfjährige zusammengezuckt, wenn ein Mann sich ihr näherte. Die Kinder seien in ständiger Habachtstellung, sagt Rousseau. Ständig in Bereitschaft, zu schlagen oder zu rennen.

In der Pause stürmen seine Schüler und Schülerinnen nach draußen. Auf einer breiten Wippe finden viele Kinder einen Platz: sowohl die, die seit Geburt Deutsch sprechen, als auch die, die die es gerade lernen. Alle Kinder schaukeln, sind übermütig, lachen. „Für die Kinder bedeutet Europa, in Frieden zu leben“, sagt Rousseau. Und dass es häufig dauere, bis die Kinder verstünden, was „kein Krieg“ eigentlich bedeutet. „Wir sprechen oft darüber – und wir sind alle dankbar dafür, jeden Tag.“ Für die Kinder in Rousseaus Klasse bedeutet das Leben in Europa, endlich die Schultern sinken lassen zu können.

Viele andere Menschen in Losheim und Manderfeld begegnen dem Thema Europa hingegen mit Schulterzucken. Es gibt den Euro, und dass die Grenzen offen sind, ist meist angenehm – auch des Einkaufens und des Tankens wegen. Frieden und Freiheit sind hier selbstverständlich geworden. Trotzdem ist der europäische Geist zu spüren. In Gesprächen und in dem Selbstverständnis der Menschen.

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