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Interview mit Domkantor Oliver Sperling„Man ist Teil des Ganzen“

Lesezeit 7 Minuten
Domkantor Oliver Sperling steht an einem Dirigentenpult aus dunklem Holz im Kölner Dom.

Begegnet allen stets auf Augenhöhe: Chorleiter und Domkantor Oliver Sperling.

Oliver Sperling ist Domkantor in Köln und komponiert selbst. Über Respekt und unterschiedliche spirituelle Zugänge zur Musik spricht er mit Bernd Imgrund.

Wer einen Domkantor interviewt, macht zugleich eine Domführung. Kreuz und quer geht es durch der Öffentlichkeit verborgene Flure, bis wir in einem holzvertäfelten Raum landen – samt Klavier, Kühl- und Kleiderschrank.

Welche Lieder haben Sie als Kind gesungen?

Klingt vielleicht seltsam, aber ich konnte alles aus der „Fledermaus“ von Johann Strauss. Ich hatte im Fernsehen eine Aufführung gesehen und die Lieder danach vor mich hingesungen. Zu Weihnachten bekam ich dann eine Triple-LP der Operette.

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Sie haben Katholische Kirchenmusik studiert. Ein Orchideenfach.

(lacht) Ich hatte ein ganz gutes Abitur und eigentlich ein Jura-Studium angepeilt, obwohl mein Herz an der Musik hing. Meine Eltern haben mich glücklicherweise auch bei der Musik gesehen.

Ein weites Feld.

Stimmt. Ich bin letztlich nicht der Einzelkämpfer an der Orgel geworden, obwohl ich sie im Schulgottesdienst hin und wieder spiele. Ich wusste recht früh, dass ich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten wollte. Deshalb die Chormusik.

Noch orchideenhafter: Sie waren von 1996 bis 2002 Dozent für Gregorianik an der Kölner Musikhochschule.

Mich fasziniert, dass es sich dabei um unbegleitete, einstimmige Musik handelt – es geht um die pure menschliche Simme. Diese beschränkte Welt ohne Akkorde, ohne Rhythmusinstrumente erzeugt eine unglaubliche Dichte.

Sie komponieren auch selbst Chormusik. Gibt es dafür einen Markt, auf dem Sie womöglich Tausende von CDs verkauft haben?

(lacht) Nein, und ich kassiere auch keine Gema-Tantiemen. Meine Kompositionen entstehen nur zu konkreten Anlässen.

Bach hat jeden Tag etwas Neues komponiert.

Der musste das, und er konnte es ja auch ziemlich gut. Im Bachjahr 2000 habe ich eine Johannespassion für Mädchenchor – zum Teil mit von Bach geklauten Rhythmen − geschrieben, weil es einfach keine für die Karfreitagsliturgie gab. Dieses Jahr werden wir die endlich mal wieder singen können.

Warum hat der Dom einen reinen Mädchenchor?

In Deutschland gab es an den Domkirchen traditionell einige Knabenchöre. Domkapellmeister Eberhard Metternich hat dann 1989 hier einen Mädchenchor gegründet. Das hängt auch mit der damaligen Gründungsphase der Domsingschule zusammen, die für Jungs und Mädchen eröffnet wurde.

Klingen Mädchen und Jungs vor dem Stimmbruch nicht völlig gleich?

Nein. Mädchenstimmen bilden sich bezüglich ihres Klangkerns und der Lautstärke eher langsamer. Jungs haben durch den größeren Stimmbruch die Chance eines Neuanfangs, Mädchen dagegen bilden ihre Stimme lebenslang aus.

Knabenchöre sind bekannter als solche mit Mädchen. Ungerecht, oder?

Ein Mädchenchor kann noch so gut sein, er wird öffentlich in der Regel weniger wahrgenommen als ein Knabenchor. Das ist sehr schade. Ich sage: Beide Formen können eine tolle Qualität erreichen. Bei uns haben der Knaben- und der Mädchenchor jeweils ihre eigene Identität, jenseits von irgendwelchen Genderdiskussionen. Sie haben ihre eigene Literatur, ihr eigenes Klangbild, und manchmal singen sie auch gemeinsam.

Was halten Sie von der Sendung „The Voice Kids“ auf Sat.1?

Meine beiden Töchter, 26 und 22 Jahre, schauen das, und ich finde das Format auch sehr interessant. Mich freut, dass solche Sendungen das Singen wieder in die Öffentlichkeit bringen. Einen Chor wie unseren kennen eher Insider, aber das Fernsehen sorgt für Prominenz.

Hätten Sie gern die ein oder andere Stimme aus der Sendung?

Eines unserer Chormädchen hat sogar mal teilgenommen. So ein Crossover könnte der Stimme schaden. Es gibt aber auch solche, auch Profis, die können beides, Klassik und Pop oder Rock. Und singen ist immer besser als nicht singen!

Was ist für Sie das Faszinierende am gemeinschaftlichen Singen?

Man spürt, man ist ein Teil eines Ganzen, das man allein niemals hinbekommen würde. Man hört aufeinander, man nimmt einander wahr. Chormusik wird spannend, wenn niemand mehr an seine eigene Stimme denken muss. Sendungen wie The Voice Kids produzieren in vielen Fällen Eintagsfliegen. Für einen Chor wie den unseren braucht man Geduld und den Willen, gemeinsam zu arbeiten.

Ist das in der Kirche dasselbe wie im Fußballstadion?

Die Atmosphäre ist sicherlich eine andere. Und das Singen im Stadion hält sich, das in der Kirche jedoch geht leider vielfach zurück.

Auch so manche Heavy-Metal-Band oder zuletzt Nina Hagen singen über Gott und Glauben.

Meines Erachtens hat auch solche Musik ihre Berechtigung. Letztlich geht es um unterschiedliche spirituelle Zugänge. Mit meiner Arbeit versuche ich zu säen und hoffe, dass die Ernte fruchtbar wird.

Also sollte sich die katholische Kirche auch musikalisch öffnen?

In der Kirche gibt es in musikalischer Hinsicht viele Aufbruchsbewegungen, das finde ich gut. Es gibt das Neue Geistliche Lied, es gibt inzwischen Ausbildungen zum Pop-Kantor und vieles mehr. Mein Standpunkt ist, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen – aber auf qualitativ hohem Niveau.

Sie leiten den Chor und gestalten als Kantor auch die Dommusik mit. Wie läuft das?

Die Chorleiter unserer vier Chöre suchen die Musik ihrer Chöre selbst aus. Bei gemeinsamen Terminen setzt man sich dann zusammen und überlegt, was man singen will. Neben dem Dom erweitern dann auch die Philharmonie und die Oper unseren Aktionsradius.

Corona und eine allgemeine Kirchenmüdigkeit machen sicher auch Ihnen zu schaffen.

Ja, die Zahl der Kirchenbesucher geht zurück, aber trotz aller Schwierigkeiten versuchen wir als Chöre die Menschen zu erreichen. Und was die Pandemie betrifft: Am Anfang habe ich mich an unzähligen Onlineformaten abgearbeitet. Wir sind alle so froh, dass wir wieder gemeinsam singen können!

Wer ist Ihr oberster Boss?

Fachlich der Domkapellmeister, dienstlich der Dompropst als Chef des Domkapitels.

Welchen Einfluss hatten die Diskussionen um Missbrauchsfälle und deren Aufarbeitung auf Ihre Arbeit?

Das ist unheimlich belastend. Es gab Sängerinnen, die blieben dem Chor fern, wenn Kardinal Woelki anwesend war. Ich habe ihm auch persönlich geschrieben, dass ich einige seiner öffentlichen Meinungen nicht teile. Auf mein Selbstverständnis als Chorleiter hat das Ganze allerdings keinerlei Einfluss: Ich arbeite weiter wie zuvor, mit derselben Überzeugung.

Haben Sie keine Angst, so etwas zu sagen?

Nein, Angst sollte man nicht haben. Die sehe ich eher bei den Geistlichen, aber auch in der Gesamtgesellschaft: Die Angst, unverdiente Privilegien zu verlieren. Die Kultur, sich grundsätzlich auf Augenhöhe zu begegnen, halte ich für ganz wesentlich.

Weihnachten und Neujahr sind bald vorbei. Machen Sie und Ihr Chor Winterschlaf?

(lacht) Keineswegs. In der Oper läuft La Bohème, an der unsere Jungs und Mädchen beteiligt sind. Wenn die Schule wieder losgeht, fahren wir mit dem B-Chor in die Eifel, ein Vorbereitungswochenende für den Aufnahmetest in den A-Chor. Dann kommt die Fastenzeit, Ostern, und im Juli steht eine Konzertreise nach Südafrika an.

Kann man die Domchöre auch privat buchen?

Privat eher nicht. Es gibt aber natürlich Anfragen, die wir annehmen. Aber wir werben nicht offensiv und haben auch kein Buchungssystem mit entsprechenden Honorarsätzen.

Worauf freuen Sie sich 2023 besonders?

Immer auf das, was als nächstes gerade ansteht. Außergewöhnlich ist vielleicht das Pontifikalamt am Pfingstsonntag mit einer Messe mit Orchester: der Missa Sancti Aloysii von Michael Haydn, dem jüngeren Bruder des berühmten Joseph Haydn. So etwas ist für einen Mädchenchor eher selten.

Zur Person

Oliver Sperling wurde 1965 in Essen geboren. Von 1974 bis 1991 sang er bei den Essener Domsingknaben. Nach Abitur und Bundeswehr studierte er an der Essener Folkwanghochschule Katholische Kirchenmusik. 1991 wurde er musikalischer Assistent für die Chorarbeit am Kölner Dom, 1994 erfolgte die Ernennung zum Domkantor.

1996 übernahm er dann die Leitung des Mädchenchores am Dom, die er bis heute innehat. Von 1996 bis 2002 war er zudem Dozent für Gregorianik an der Hochschule für Musik Köln.

Von 2007 bis 2015 war er Mitglied im Präsidium des Deutschen Chorverbandes Pueri Cantores. Er komponiert auch eigene geistliche Chormusik, insbesondere A-Cappella-Werke für gleiche Stimmen (Sopran und Alt).

Sperling wohnt in Weiden.

www.koelner-dommusik.de

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