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Neue BiographieKonrad Adenauer, der Kanzler der Experimente

6 min
„Keine Experimente": Bundeskanzler Konrad Adenauer gibt seine Stimme zur Bundestagswahl 1957 ab.

„Keine Experimente": Bundeskanzler Konrad Adenauer gibt seine Stimme zur Bundestagswahl 1957 ab.

Der Geburtstag Konrad Adenauers jährt sich Anfang 2026 zum 150. Mal. Passend zum Jubiläum hat der Bonner Historiker Friedrich Kießling eine neue Biografie vorgelegt und schildert das Leben eines äußerst risikofreudigen Politikers.

„Keine Experimente“ – mit diesem Schriftzug unter einem Porträt von Bundeskanzler Konrad Adenauer zog seine Partei, die CDU, in den Bundestagswahlkampf 1957. Das kam offenbar gut an: Die Unionsparteien gewannen haushoch und erzielten zusammen zum ersten und einzigen Mal in der bundesdeutschen Geschichte eine absolute Mehrheit im Bundestag. Nur, so schreibt der Bonner Historiker Friedrich Kießling in seiner neuen Adenauer-Biografie, war dieser Slogan eine grundfalsche Überschrift für die Politik, die Adenauer betrieb: „Adenauers politischer Kurs war im Innern wie nach außen umstritten und riskant. Bei Lichte betrachtet handelte es sich um lauter Experimente.“ Die Westbindung zum Beispiel, die gegen große Widerstände durchgesetzte Wiederbewaffnung, die deutsch-französische Annäherung sowie die Gründung der europäischen Gemeinschaften. Und die „dynamische Rente“, wenngleich die Risiken dieses sozialpolitischen Großversuchs erst Jahrzehnte nach Adenauers Tod voll zum Tragen kamen.

Den 150. Geburtstag ihres Gründungskanzlers wird die Bundesrepublik am 5. Januar 2026 begehen. Eines Politikers, der noch 1961 als Kanzler ein neunstündiges Gratulantendefilee zu seinem 85. Geburtstag durchstand, der dann weiter bis 1963 regierte und nach seinem Tod 1967 mit einem Staatsbegräbnis gewürdigt wurde, das bis heute in unseren Gefilden seinesgleichen sucht. Vor knapp vier Jahrzehnten, 1986, erschien der erste Band der monumentalen Adenauer-Biografie von Hans-Peter Schwarz, deren Schilderungen gelegentlich als harmonisierend kritisiert wurden. Ein Jahrzehnt später, ebenfalls ausführlich in zwei Bänden, die Gegenrede von Henning Köhler, der die Brüche in Adenauers Argumentation und Handeln herausstellte. Jetzt, rechtzeitig vor dem 150. Geburtstag, legt Kießling eine neue politische Biografie des bundesrepublikanischen Übervaters vor.  Sie ist kompakter als die Vorgängerwerke, dennoch mit vielen Details gespickt. Allein das Quellen- und Literaturverzeichnis nimmt 18 Seiten ein.

NS-belastete Funktionsträger integriert

Auch Kießling baut Adenauer kein Denkmal. Er markiert das Widersprüchliche in seinem Verhalten, zum Beispiel die Integration von stark NS-belasteten Funktionsträgern in den Beamtenapparat der Bundesrepublik, betrieben von einem Kanzler, der selbst in der NS-Zeit ganz klar ein Regimegegner und deswegen zeitweise persönlich gefährdet gewesen war. Aber Kießling hütet sich vor raschen, kurzen Urteilen. Den Fall des von Adenauer so hochgeschätzten Kanzleramtschefs Hans Globke, einst Kommentator der Nürnberger Gesetze, stellt er differenziert dar und schließt: „Wie viele andere … hielt Adenauer Globke neben allem Nutzen, den dieser für ihn hatte, wohl auch nicht für einen Nazi.“ Kritisch sieht er den Adenauer betriebenen konfrontativen Politikstil, insbesondere die Dämonisierung der SPD, ferner die manipulative Medienpolitik und die heute unglaublich anmutende Tatsache, dass Adenauer die Bespitzelung der Sozialdemokraten durch die „Organisation Gehlen“, also den Auslandsgeheimdienst, hinnahm und die Ergebnisse nutzte. Kießling macht aber auch deutlich: Adenauer stand mit seinen Methoden keineswegs allein. Eine „aktive, verdeckte Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit“ war in westlichen Staaten damals Standard. Daran, dass Adenauer ein Demokrat war, lässt Kießling keinen Zweifel, und er lehnt es ab, „die … autoritäre Momente in Adenauers Politik- und Führungsstil allein als Ausdruck deutscher obrigkeitsstaatlicher Traditionen oder als Nachhall der NS-Herrschaft zu begreifen“.

Die „dreieinhalb Leben“ des Konrad Adenauer

Ohnehin ist Adenauers politisches Wirken für Kießling alles andere als ein Kontinuum. Der Untertitel „Dreieinhalb Leben“ ist Programm: Biograf Kießling unterscheidet zwischen dem Kölner Beigeordneten im Kaiserreich, dem Oberbürgermeister in der Weimarer Republik und dem Kanzler. Das ominöse „halbe“ Leben siedelt er in der NS-Zeit an, in der der Regimegegner Adenauer zurückgezogen und bedroht in Berlin, Rhöndorf und Maria Laach lebte. Auch wenn der Kölner OB Adenauer zweimal (allerdings nur einmal ernsthaft) als Reichskanzler im Gespräch war, sieht Kießling keinen geraden Karriereweg vom Rathaus ins Kanzleramt. Adenauers Kölner Zeit würde auch bei weitem unterschätzt, wenn man sie als Vorbereitung auf die gesamtstaatliche oberste Regierungsverantwortung interpretieren würde, deren Inhaber zu Weimarer Zeiten ohnehin auf dem Schleudersitz saß. Schon die ungeheure Modernisierung der Stadt Köln unter Adenauer wäre den berühmten Eintrag ins Buch der Geschichte wert.

Köln - Feierlichkeiten zum 10jährigen Bestehen der Kölner Tageszeitung "Kölnische Rundschau" im Hotel Excelsior. - Im Bild v.l.:  Rundschau-Herausgeber Dr. Reinhold Heinen, Bundeskanzler Konrad Adenauer und der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings im Gespräch. - Foto vom 19.03.1956

Eine enge Beziehung verband Adenauer mit der Kölnischen Rundschau – hier die Feier zum zehnjährigen Bestehen 1956 (mit Rundschau-Herausgeber Reinhold Heinen und Josef Kardinal Frings).

„Entdeckung der individuellen Freiheit“

Die Erfahrung der NS-Diktatur und die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus Stalins führten bei Adenauer zu einer markanten Weiterentwicklung seines politischen Denkens: Kießling spricht zugespitzt von einer „Entdeckung der individuellen Freiheit“ durch Adenauer nach 1945. Vor 1933 sei dieses Konzept in seiner Gedankenwelt kaum nachweisbar. Nun, nach dem Zweiten Weltkrieg, betonte Adenauer diese Freiheit und die Würde der menschlichen Person. Die Ausführungen darüber mag man auch als indirekten Kommentar zur Debatte über die Ära Adenauer als vermeintliche Zeit der Restauration lesen: Im Hinblick auf das Grundrechteverständnis wie auch bei vielen grundlegenden Entscheidungen in der Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik setzte Adenauer auf einen Neubeginn, so irritierend andererseits sein Umgang mit ehemaligen NS-Größen war.

Keinen Anlass zur Kurskorrektur hatte der überzeugte Katholik Adenauer dagegen beim Thema Kirche und Politik: Ob er 1922 auf dem Katholikentag in der bayerischen Hauptstadt antirepublikanische Angriffe des Münchner Kardinals Michael Faulhaber zurückwies oder sich 1949 als Präsident des Parlamentarischen Rates gegen einen Einmischungsversuch des Kölner Kardinals Josef Frings wandte – Adenauer zeigte Kirchenvertretern ihre Grenzen, wenn sie politisch übergriffig zu werden drohten. Er achtete auf konfessionelle Toleranz und hielt schon als Kölner Oberbürgermeister engen Kontakt zur jüdischen Gemeinde. Diese Linien führte er nach 1945 weiter. 

Auch ein Werk mit mehr als 500 Seiten Umfang kann nicht alles abdecken, was der eine oder andere Leser sich wünschen mag. Sonst wäre Kießling doch wieder bei zwei Bänden herausgekommen wie einst Schwarz und Köhler. Wie weit reichte zum Beispiel der Einfluss von Deutsche-Bank-Chef Hermann Josef Abs als Adenauer-Berater und Strippenzieher? Dazu äußert sich der Biograf nicht.

Stärker ins Gewicht fällt eine andere Lücke: Die Berlin-Krise, die mit dem Ultimatum von Kremlchef Nikita Chruschtschow 1958 begann und im Mauerbau 1961 gipfelte, kommt nur in einem Satz zur Sprache. Dabei stellte der Mauerbau Adenauers Deutschlandpolitik grundsätzlich in Frage, brachte ihn kurz vor der Bundestagswahl 1961 innenpolitisch schwer unter Druck und trug zur Zuspitzung seiner Auseinandersetzung mit Willy Brandt bei. Die berüchtigte Entgleisung „Herr Brandt alias Frahm“ geschah am 14. August 1961, einen Tag nach dem Start der Absperrungsmaßnahmen in Berlin. Heute, 36 Jahre nach der Öffnung der Mauer, hätte man gern gewusst, wie der so abgewogen analysierende Historiker Kießling die Vorgänge von 1958 bis 1961 einordnet. Und noch ein Wunsch für die nächste Auflage: Die vorliegende Buchfassung zeigt, dass dem Lektorat wohl die Zeit für ein paar letzte Korrekturen fehlte, sie sollten nachgeholt werden. Der vermeintliche Zeitungstitel „Kölner Rundschau“ aber sei hiermit kraft Amtes verziehen.

Friedrich Kießling: Adenauer. Dreieinhalb Leben. Biografie. München: dtv 2025, 543 S., 30 Euro