Studie zur Aufarbeitung sexualisierter GewaltTäter wurden konsequent gedeckt

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Das Münchener Institut IPP stellt eine Studie zur „Wissenschaftlichen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen von 1958 bis heute“ vor.

Betroffene Mienen: Bischof Franz-Josef Overbeck (v.l.), Generalvikar Klaus Pfeffer und Personalleiterin Christiane Gerard.

Mehr als 200 Opfer: Eine unabhängige Studie zur „Wissenschaftlichen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen von 1958 bis heute“ sieht schwere Versäumnisse im Ruhrbistum. 

Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck ging auf die kleine Schar von Protestierenden zu und schüttelte ihnen freundlich die Hand. Die Menschen hatten sich vor dem Eingangsgebäude des Ruhrturms in Essen aufgebaut, in dem kurz darauf die Studie zum sexuellen Missbrauch in seinem Bistum vorgestellt wurde, und machten ihrem Unmut über die katholische Kirche und deren Umgang mit den Verbrechern Luft. „Bestrafung der Täter und Vertuscher“, stand auf den Plakaten der Betroffenen-Organisationen und Selbsthilfegruppen. Oder: „Die Kirche versinkt im Missbrauchssumpf.“

Overbeck, seit 2009 Bischof in Essen, sagte später ernst: „Wir sind ein lernendes Bistum, und ich bin ein lernender Bischof.“ Zuvor hatte Helga Dill, Psychologin und Geschäftsführerin des Münchner Instituts für Praxisforschung und Projektberatung, die zentralen Ergebnisse der vom Bistum selbst in Auftrag gegebenen Studie zur sexualisierten Gewalt im Bistum seit 1958 in klaren Worten vorgetragen.

Wie das „System Kirche“ Täter schützt

Demnach war der jahrzehntelange Missbrauch im Bistum nur möglich, weil die Täter von der Kirche konsequent gedeckt und die Opfer im Stich gelassen wurden. Danach sind im Ruhrbistum bislang 201 Fälle von sexuellem Missbrauch, vor allem durch Priester und Ordensleute beiderlei Geschlechts, bekannt geworden. Insgesamt 423 Verdachtsfälle zählte das Bistum. In den weitaus meisten Fällen reicht der erste Zeitpunkt der Übergriffe in die 50er bis 60er-Jahre zurück.

Anhand von sechs „Täterkarrieren“ untersuchten die Forscher, wie das „System Kirche“ die Täter schützte. Demnach beschränkte sich das Bistum Essen über Jahrzehnte hinweg darauf, Beschuldigte in andere Dienststellen zu versetzen. Dadurch konnten die Täter ihre Übergriffe meist ungehindert fortsetzen. Bis zum Jahr 2010, als der erste Missbrauchsskandal die katholische Kirche erschütterte, gab es keine Bemühungen seitens des Bistums, Betroffene von sexualisierter Gewalt zu unterstützen oder zu begleiten, so die Studie. „Sie wurden mit der Bewältigung ihrer Erfahrung allein gelassen und waren, wie ihre Familien, häufig den Anfeindungen innerhalb ihrer Kirchengemeinden schutzlos ausgeliefert“, erläuterte Studienautorin Helga Dill.

Betroffene wurden ausgegrenzt

Neu im Vergleich mit bisherigen Studien zum sexuellen Missbrauch ist der Blick auf die Auswirkungen solcher Taten in den einzelnen Kirchengemeinden. Wurde ein Fall bekannt, kam es in den Gemeinden fast immer zu Konflikten, Streit und Spaltungen. Die Taten wurden verschwiegen, geleugnet oder heruntergespielt. Betroffene, die es gewagt hatten sich zu offenbaren, wurden in der Folge oftmals ausgegrenzt, was ihre Schmerzen und ihre Isolation noch vertiefte.

Viele Gemeindemitglieder solidarisierten sich mit ihrem Pfarrer, der doch so viel Gutes für die Menschen geleistet habe, schildert Dill ihre Erkenntnisse. Dabei nutzten wohl manche Priester ihr Ansehen und ihre Autorität aus, da sie in der Tradition der katholischen Kirche als „geweihte Männer Gott nahe stehen und somit als unangreifbar gelten“, sagte Dill. Wurden die Pfarrer versetzt, wirkten sie oft dennoch noch jahrelang weiter auf das Leben der „zurückgelassenen“ Menschen ein, entweder, weil weiterhin Kontakte bestanden oder weil es eine Art „Schweigegebot“ in Bezug auf die Vorwürfe gab.

Künftig sollen betroffene Gemeinden bei der Aufarbeitung der Fälle unterstützt werden und Betroffeneninitiativen einen festen Etat für ihre Arbeit erhalten, schlägt die Studie vor. Die Kirche sollte Beratungsstellen einrichten und dabei Täter- und Betroffenenberatung strikt trennen. Überdies sollte die Kirche ihre Priesterausbildung reformieren und die Geistlichen besser betreuen.

Bessere Personalführung

Bischof Overbeck kündigte konkrete Verbesserungen an: Die Personalführung am Bistum werde neu organisiert, alle Personalakten seien künftig zugänglich. Zudem arbeite das Bistum an einem transparenten Entschädigungsverfahren für Betroffene, das neben einer Anerkennung ihres Leids auch die Übernahme von Therapiekosten oder psychosozialer Hilfe regeln soll.


Betroffenenvertreter: Kirche muss Schritt nach vorne machen

Johannes Norpoth aus Gelsenkirchen begrüßte als Vertreter der Betroffenen die Ergebnisse der Studie. Eine solche Tiefenanalyse sei dringend notwendig, „angesichts des römischen Gerontoklerikalismus“ und seiner zuletzt wieder vor „Ignoranz und Arroganz triefenden Wortmeldungen“. Das Gutachten zeige die „unvorstellbare Wucht und Breite der Auswirkungen sexualisierter Gewalt“, so Norpoth, der auch Sprecher der Betroffenen bei der Deutschen Bischofskonferenz ist.

Prozesse von Vertuschung, Täterschutz und Diskreditierung von Betroffenen seien sichtbar geworden und straften jene Lügen, „die immer noch das Märchen der unsäglichen Einzeltaten erzählen und die systemischen Ursachen negieren wollen.“ Norpoth betonte, wie wichtig neben der Aufarbeitung auch die finanzielle Entschädigung für die Opfer sei. „Hier muss die Kirche einen deutlichen Schritt nach vorne machen“, forderte er. (co)