Während russische Truppen im Donbass vorrücken, bereiten sich Trump und Putin auf ihr Treffen in Alaska vor. Europas Sorge wächst: Wird der Ex-US-Präsident die Ukraine opfern? Die Lage an der Front und die Strategien der Kriegsparteien - eine Analyse.
Vor Ukraine-Treffen in AlaskaDruck im Donbass, Bangen vor Trump – das ist die Lage vor dem Gipfel

Die Zerstörung geht weiter: Hier ein von einem russischen Luftchlag schwer beschädigtes Gebäude in Bilozerske
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Werden US-Präsident Donald Trump in Alaska ein Jalta 2.0 veranstalten, eine Teilung Europas ähnlich der, die einst vor 80 Jahren Stalin mit den Westmächten verabredet hatte? Seit Monaten halten russische Propagandisten dem Westen vor, den „Geist von Jalta“ verraten zu haben. Putin und Trump müssten über mehr sprechen als nur über die Ukraine, sie müssten über die Ordnung Europa und der Welt reden, forderte der vom Westen sanktionierte russische Oligarch Konstantin Malofejew. Trump-kritische US-Beobachter wie der frühere US-Botschafter in Moskau Michael McFaul oder Polit-Talkmaster David Frum warnen genau vor diesem Szenario, vor einer Auslieferung der Ukraine und dann möglicherweise auch weiterer Staaten an Russland. Zugleich versucht Russland mit einem Vorstoß im nördlichen Donbass, unmittelbar vor dem Gespräch mit Trump Fakten zu schaffen. Wie ist die Lage am Boden? Und wie sind die Aussichten für die Gespräche in Alaska?
Wie entwickelt sich der russische Vorstoß im Donbass?
Auch wenn die ukrainische Armee Darstellungen über einen russischen Frontdurchbruch im Norden des Donbass zurückweist, sind die Nachrichten für Kiew beunruhigend. Östlich der Kleinstadt Dobropillja sind russische Soldaten bis zu 17 Kilometer tief in bis dato von der Ukraine gehaltenes Gebiet eingedrungen. Das unabhängige US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) spricht von einer „taktischen Penetration“, nicht von einem operativen Durchbruch. Ob Russland ihn durch Nachführen von Truppen weiter ausnutzen könne, sei noch unklar.
Seit anderthalb Jahren ist die Region um den Verkehrsknotenpunkt Pokrowsk umkämpft. Dobropillja wurde im Frühjahr Ziel eines schweren russischen Raketenangriffs mit elf Toten. Aus Personalnot hatte sich die Ukraine aber offensichtlich darauf verlassen, Verteidigungsanlagen – die sogenannte neue Donbass-Linie – hauptsächlich mit einem Kordon von Drohnen zu schützen. An sich ist so ein Schutz effektiv und erklärt auch, warum die russischen Angreifer nur noch wenig Panzer einsetzen und stattdessen zu Fuß, per Motorrad oder sogar mit Lasteseln durchzukommen versuchen.
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Wie sie nahe Dobropillja vorgehen, hat der US-Analyst Andrew Perpetua beschrieben: Russische Drohnen weisen kleinen Fußtrupps den Weg durch den ukrainischen „Drohnenwall“. Wärmeschluckende Umhänge schützen die Eindringlinge vor der Erkennung durch Infrarotkameras. Sie töten jeden – auch Zivilisten –, der sie verraten könnte. Ein größerer Vorstoß wurde bisher nicht gemeldet und dürfte, so der polnische Analyst Maciej Korowaj, auf der bisher erreichten Breite auch schwer machbar sein.
Für die Ukraine ist die Situation auch so schlimm genug. Seit dem Wochenende liefen alarmierende Meldungen aus dem Gebiet bei Dobropillja, aber offensichtlich gab es im Hinterland der „neuen Donbass-Linie“ nicht genug Leute zum Eingreifen, ganz zu schweigen von vorbereiteten Stellungen. Erst am Dienstagabend berichtete dann Generalstabssprecher Andrij Kowalew, dass ukrainische Truppen damit begonnen hätten, vorgedrungene Russen auszuschalten. Nach eigenen Angaben ist das Asow-Korps, eine Eliteeinheit, im Einsatz. Ihm stehen bei Dobropillja laut Korowaj gut ausgebildete russische Soldaten der 20. und der 150. motorisierten Schützendivision gegenüber, also nicht die an vielen anderen Frontabschnitten zu beobachtenden miserabel geschulten und schlecht ausgerüsteten sogenannten Kriegsfreiwilligen. Gelingt es so nicht, die russische Infiltration zu stoppen, dann könnte daraus eine Bedrohung für die Städte Pokrowsk und Kramatorsk entstehen. „Die entscheidende Schlacht beginnt“, fürchtet Korowaj.
Laut Kowalew hat die russische Seite 110.000 Soldaten im Gebiet Pokrowsk zusammengezogen, sie sei zahlenmäßig überlegen. Russische Soldaten sollen schon in Vororten dieser Stadt gesichtet worden sein, und auch bei Tschassiw Jar in der Nähe von Bachmut verschlechtert sich die Lage: ein weiterer Ansatzpunkt für einen möglichen russischen Vorstoß auf Kramatorsk. Die Großstadt selbst ist stark befestigt und wäre – wie das benachbarte Slowjansk – für die Angreifer nur extrem schwer einzunehmen, aber ihr droht ein verheerendes Szenario mit russischem Dauerbeschuss. Die ukrainische Regierung hat die Bewohner aufgefordert, sich in Sicherheit zu bringen.
Wie sieht die Lage an anderen Frontabschnitten aus?
Im Norden der Ukraine, bei Sumy, hat die Ukraine die Lage nach allen verfügbaren Informationen beruhigen können und Territorium zurückgewonnen. Bei Borowa in der Nähe von Isjum (Bezirk Charkiw) wurde zuletzt russisches Vordringen gemeldet. Auffällig waren Anfang August russische Bombenangriffe in der Bezirkshauptstadt Cherson tief im Süden an der Dnipro-Mündung: Die Brücke, die den Stadtteil Korabel im Dnipro-Delta an die Innenstadt anbindet, wurde schwer beschädigt. Die Behörden riefen am 5. August zur Evakuierung von Korabel auf. Das Vorgehen erinnert an die Methode, mit der die Ukraine ihrerseits 2022 Cherson von den russischen Besatzern befreite – durch das systematische Zerstören von Nachschubwegen.
Im Frontverlauf gibt es von Tag zu Tag kleine Bewegungen, auch ukrainische Gegenvorstöße. Doch in der Gesamtbilanz erobert Russland derzeit mehr als 500 Quadratkilometer ukrainischen Bodes pro Monat, etwa ein Viertel mehr als die Fläche der Stadt Köln – aber weniger als ein Zehntel Prozent des gesamten ukrainischen Staatsgebiets. Seit Anfang August waren es 225 Quadratkilometer, so eine Berechnung aufgrund der Kartendaten des ukrainischen Dienstes Deepstatemap.
Bei diesem Tempo müsste Russland fast ein Jahrhundert lang kämpfen, um die Ukraine zu erobern – bei hohen Kosten (die zum Teil durch Plündern des Wohlfahrtsfonds, also der Renten-Rücklagen, gedeckt werden) und gewaltigen eigenen Verlusten. Westliche Schätzungen lagen im Frühjahr bei 250.000 russischen Kriegstoten, der britische Sender BBC meldete Anfang August Hochrechnungen zwischen rund 210.000 und 296.600 russischen Gefallenen. 121.507 sind nach Angaben der BBC und des russischen Oppositionsmediums Mediazona namentlich bekannt. Für die Ukraine weist der unabhängige Dienst UAlosses 68.198 bekannte Kriegstote seit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 aus. Da die Ukraine Gefallene in aller Regel öffentlich ehrt, dürfte die Dunkelziffer hier deutlich weniger hoch sein als auf russischer Seite.
Viel ist derzeit von Rekrutierungsschwierigkeiten und Desertationen auf ukrainischer Seite die Rede. Nach Angaben des russischen Oppositionsmediums Werstka findet aber auch die russische Armee immer weniger Freiwillige, die allein um des Geldes willen oder aus patriotischer Begeisterung in der Ukraine kämpfen wollen. Stattdessen würden Polizisten angehalten, Verdächtigen – vom Besitzer kleiner Drogenmengen bis zum Kinderschänder – eine Einstellung des Verfahrens anzubieten, wenn sie Soldaten werden.
Wie haben sich die USA auf das Treffen in Alaska vorbereitet?
Dass Russland den Druck im nördlichen Donbass kurzfristig so erhöht hat, mag auch politische Gründe haben: Natürlich versuche Russland, die Meldungen aus dem Raum Dobropillja auch auszunutzen, um die Gespräche zwischen Kremlchef Wladimir Putin und seinem US-Gastgeber Donald Trump am Freitag in Alaska zu beeinflussen, so das ISW. Das große Ziel Russland bleibe es, den Willen der ukrainischen Verteidiger und ihrer Unterstützer in den USA und Europa zu brechen.
Noch verkaufen die USA unter Trump den Europäern Waffen zur Weitergabe an die Ukraine, selbst unterstützen sie das Land nicht mehr. Wird Putin bei Trump noch mehr Entscheidungen zulasten Kiews erreichen? Am Mittwoch versuchte Bundeskanzler Friedrich Merz im Verbund mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und anderen europäischen Politikern Einfluss auf Trump zu nehmen. Denn schon die Vorbereitung des Treffens löst Sorgen aus: Am Freitag letzter Woche lief eigentlich ein von Trump gesetztes Ultimatum an Russland, sich auf einen Waffenstillstand einzulassen, aus. Aber schon am Mittwoch davor war die Frist vom Tisch. Trumps nach Moskau gereister Sondergesandter Steve Witkoff übermittelte Nachrichten über vermeintliche Zugeständnisse.
Von Mittwoch bis Freitag gab es dazu drei unterschiedliche Versionen, denn er dürfte Putin gründlich missverstanden haben: Die russische Seite hatte keinen „friedlichen Rückzug“ aus den ukrainischen Gebieten Cherson und Saporischschja angeboten, sondern im Gegenteil einen Rückzug der Ukraine verlangt. Dennoch redet Trump seither von einem Gebietstausch. Er hat dem für Putin so prestigeträchtigen Treffen also offenbar aufgrund einer falschen Lageeinschätzung zugestimmt – und dann bei einem Auftritt am Montag den Eindruck kompletter Desorientiertheit hinterlassen. Selbst den Ort des geplanten Treffens verlegte Trump vom US-Bundesstaat Alaska nach Russland und wandte sich gegen Selenskyj, der Gebietsabtretungen mit Hinweis auf die ukrainische Verfassung ablehnte: Selenskyj habe ja auch die Zustimmung dafür erhalten, „Krieg zu führen und alle zu töten“. Wie will dieser Mann mit Putin verhandeln – und was wird er zusagen, nur um einen Erfolg verkünden zu können? Hoffnung mag die europäische Seite allenfalls aus Trumps Aussage ziehen, es werde am Freitag keinen „Deal“ geben. Und aus der neuerlichen Drohung mit „schwerwiegenden Konsequenzen“ an Moskau, wenn es keinen Waffenstillstand gebe.
Welche Angaben sind über die russischen Erwartungen im Umlauf?
Der russische Politologe Dmitri Suslow hat mit der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“ darüber gesprochen, was Putin in Alaska fordern werde – darunter den ukrainischen Abzug aus dem ganzen Donbass, also jener Region, in der zurzeit besonders erbittert gekämpft wird. Im Gegenzug könnten die Russen aus Randstücken der Bezirke Sumy, Charkiw und Dnipropetrowsk abziehen. So ein „Gebietstausch“ wäre für die Ukraine ein miserables Geschäft. Großstädte und Bergbaugebiete kämen unter russische Kontrolle. Die „neue Donbass-Linie“ und der Befestigungsgürtel von Kostjantyniwka bis Slowjansk wären dahin. Die Rest-Ukraine wäre nicht mehr durch diese Anlagen vor möglichen neuen russischen Angriffen geschützt, zumal Suslow verlangte, das Land zu demilitarisieren und von einem Nato-Beitritt auszuschließen. Dieses Szenario – Gebietsverluste ohne Sicherheitsgarantie – wollen die europäischen Partner unbedingt vermeiden. Es würde andauernde Unsicherheit schaffen und einen Wiederaufbau der Ukraine nahezu unmöglich machen. Wer sollte in einem Land investieren, das jederzeit aufs Neue angegriffen werden könnte?
Suslow firmiert als Kreml-Berater, ist allerdings vor einem Jahr durch die abenteuerliche Idee aufgefallen, den Westen durch Zünden einer Atombombe zu beeindrucken. Seinen Auftritt mag man als Versuch werten, westliche Reaktionen zu testen. Bemerkenswert ist, dass Suslow die Forderung nicht wiederholt, auch die noch freien Teile der Bezirke Cherson und Saporischschja zu räumen – aber die Ukraine soll ja ohnehin nicht mehr verteidigungsfähig sein und eine „föderale“ Verfassungsreform nach Moskauer Gusto erhalten. Wenn Selenskyj sich nicht unterwirft, soll Trump laut Suslow die Waffenlieferungen an die Ukraine stoppen, explizit auch Waffenverkäufe an ausländische Kunden zur Weitergabe an die Ukraine. Nachdem Trump sein Ultimatum gestrichen hat, stellt also ein Putin-Anhänger seinerseits eine ultimative Forderung.
Wie sehr kann Trump die Ukraine unter Druck setzen?
Was immer Trump und Putin besprechen, das europäische Mantra lautet: Kein Abkommen ohne die Ukrainer. Dahinter steht die Einschätzung, dass Trump die Rechnung nicht ohne den Wirt machen kann: Solange die Ukrainer kämpfen wollen, werden sie es tun. Das Druckmittel, Hilfen zu streichen, hat Washington nicht mehr. Würde Trump sich aber der Suslow-Forderung beugen, Waffenverkäufe zu stoppen, würde das die ukrainischen Verteidiger sehr schwächen. Beispielsweise bei Patriot-Luftabwehrraketen, Software-Updates für die F16-Kampfjets und Munition für die Himars-Raketenwerfer sind die Ukraine und ihre Partner auf die USA angewiesen. Allerdings würde ein Lieferstopp das Image der US-Rüstungsindustrie beschädigen. Wer wird Patriot-Systeme kaufen, wenn er sich nicht auf Nachschub verlassen kann?
Die Ukraine ihrerseits hat jüngst gezeigt, dass US-Wünsche sie nur noch begrenzt interessieren. Auch nach dem Auslaufen einer von den USA gewünschten und Moskau oft verletzten Feuerpause im April hatte die Ukraine sich mit Angriffen auf Energieanlagen des Gegners zurückgehalten. Sie kommen in Washington, wo man steigende Energiepreise fürchtet, nicht gut an. Im August wurden aber bereits fünf ukrainische Drohnenangriffe auf russische Raffinerien bekannt. Werke in Saratow und Nowokuibyschewsk stellten ihren Betrieb ein, die größte Raffinerie des Ölkonzerns Rosneft in Rjasan ist zur Hälfte lahmgelegt – so die „Moscow Times“. Das stoppt die russischen Truppen zwar nicht, verknappt aber das Treibstoffangebot. Wenn dann noch Sprit an die Front fließt, steigen eben die Preise im Inland.
Der weiteste derartige Angriff galt einer Raffinerie in der 1700 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernten Region Komi. Waffen solcher Reichweite hat die Ukraine von keinem westlichen Partner bekommen. Deutschland besitzt sie auch selbst nicht. Statt der bisher eingesetzten Drohnen wären aber weitreichende Marschflugkörper nötig, um nachhaltige Schäden anzurichten, auch am etwa 1300 Kilometer von ukrainischem Territorium entfernten gigantischen Drohnenwerk in Alabuga (Republik Tatarstan), Produktionskapazität: rund 3000 Shahed-Drohnen im Monat. Für die vieldiskutierten deutschen Taurus-Marschflugkörper wäre Alabuga viel zu weit entfernt, ebenso wie viele Raffinerien. Die Ukraine arbeitet an entsprechenden Waffen und hat Ende Mai aus Deutschland Unterstützung dabei zugesagt bekommen. Und je mehr die Ukrainer selbst können, desto besser können sich Trump widersetzen.