FlüchtlingsstromWarum verteilen sich Ukrainer so ungleich in der EU?

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Geflüchtete aus der Ukraine stehen vor den Gebäuden einer Flüchtlingsunterkunft.

Geflüchtete aus der Ukraine stehen vor den Gebäuden einer Flüchtlingsunterkunft.

In absoluten Zahlen leben EU-weit zwei Jahre nach Kriegsbeginn die meisten Ukrainer in Deutschland. Doch einige Länder sind noch beliebter – und andere eher unattraktiv. Woran liegt das?

In den ersten Wochen, nachdem Russland seinen Großangriff auf die Ukraine gestartet hatte, kam es zu bewegenden Bildern am Berliner Hauptbahnhof und andernorts. Freiwillige in Warnwesten nahmen tausende Menschen in Empfang, die stündlich in überfüllten Zügen aus Polen eintrafen. Es waren überwiegend Alte und Frauen, die sich und ihre Kinder in Sicherheit brachten, vor den russischen Panzern, Raketen, dem drohenden Tod. An den Bahnhöfen bekamen die ukrainischen Hilfsbedürftigen Essen und Trinken, Kleidung, ein Obdach. Die deutsche Willkommenskultur war zurück.

Zwei Jahre dauert nun der Krieg, der am 24. Februar 2022 mit der russischen Invasion begann. Seitdem haben mehr als vier Millionen Menschen aus der Ukraine Zuflucht in der EU gefunden. Die meisten von ihnen leben in Deutschland, es sind mittlerweile rund 1,1 Millionen. Sie kamen größtenteils zwischen März und August 2022 in der Bundesrepublik an. Anschließend ließ der Flüchtlingsstrom stark nach. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts flohen im vergangenen Jahr „nur“ noch 277.000 Ukrainer nach Deutschland. Gleichzeitig zogen 156.000 Menschen wieder zurück in das kriegsgeplagte Land.

Polen: Nachbarschaftshilfe

Zoomt man aus Deutschland heraus und weitet den Blick auf alle EU-Mitgliedstaaten, fällt sofort auf, dass sich die ukrainischen Kriegsflüchtlinge sehr ungleich auf die einzelnen Länder verteilt haben. So hat etwa das direkte Nachbarland Polen Beachtenswertes geleistet: Dort leben mittlerweile mehr als 950.000 Ukrainer. Aber auch im deutlich kleineren Tschechien sind es um die 375.000. Setzt man die Zahl der Flüchtlinge in Relation zur Bevölkerung, rangieren nicht nur Polen und Tschechien vor der Bundesrepublik, sondern auch Länder wie Irland und Zypern.

Doch was ist mit den flächenmäßig größten Staaten der EU? In Spanien haben immerhin fast 200.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine Schutz gefunden. Aber in Frankreich sind es gerade mal 69.000. Wie kann das sein? Und von welchen Faktoren machen die Ukrainer ihre Entscheidung abhängig?

Freunde und Familie

Für Franck Düvell sind persönliche Kontakte einer der Hauptgründe. „Viele Ukrainer sind dahin geflohen, wo bereits vor dem Krieg Freunde und Angehörige lebten“, sagt der Migrationsforscher der Universität Osnabrück. „Das erklärt, warum Polen, Tschechien und Deutschland zu den relevantesten Zielländern gehören.“ Hierzulande hätten sich vor Kriegsausbruch etwa 150.000 Ukrainer legal aufgehalten. Düvell nennt das „Vorkriegsmigration“. Er sagt: „Sie ist eine der stärksten Triebkräfte, die darüber entscheiden, wo die Leute hingehen.“

Sie sei auch die Ursache für die vergleichsweise hohen Flüchtlingszahlen in Südeuropa. Mitte der Nullerjahre habe es einen Wandel unter ukrainischen Migranten gegeben, erklärt der Experte. „Statt nach Russland gingen viele fortan nach Portugal, Spanien, Italien und Griechenland. Dort arbeiteten sie vorübergehend oder ließen sich nieder.“ So entstanden vor Ort Netzwerke, in die zahlreiche Ukrainer nach dem russischen Angriff zurückkehrten.

Nähe und Sprache

Zwei weitere Faktoren sind aus Sicht des Forschers entscheidend. Zum einen sei das die geografische Nähe: „Zahlreiche Ukrainer sind in den Nachbarländern geblieben, weil sie noch Familie in der Heimat haben.“ Zum anderen sei auch die Sprache ein zentraler Punkt. „Andere slawische Sprachen sind für Ukrainer einfacher zu erlernen“, sagt Düvell. So gäben mehr als 80 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge in Polen an, die Sprache zu beherrschen. In Tschechien seien es immerhin bis zu 60 Prozent. In Deutschland dagegen gebe nur rund jeder dritte Ukrainer an, deutsch zu sprechen.

Und woher kommen die niedrigen Zahlen in Frankreich? Die Sprachbarriere sei sehr groß, erklärt Düvell. Französisch werde an ukrainischen Schulen nicht unterrichtet. Und anders als etwa Schweden oder Dänemark habe die Grande Nation in der Vergangenheit kaum gezielt Arbeitskräfte und Studenten angeworben. Folge: „Zwischen Frankreich und der Ukraine konnte keine richtige Verbindung entstehen.“ Zudem werde das französische Zuwanderungssystem unter Flüchtlingen jeglicher Nation als bürokratisch und eher abweisend empfunden.

Frankreich: Harte Bandagen

Die European Stability Initiative (ESI) sieht noch weitere Gründe. Demnach habe die französische Regierung nach Kriegsausbruch kaum Informationen zu Hilfsangeboten auf Ukrainisch bereitgestellt, schreibt die Denkfabrik in einem Hintergrundpapier. Entsprechende Websites seien nicht übersetzt worden oder hätten nicht funktioniert.

Außerdem hätten Ukrainer in Frankreich nicht die gleiche Stellung wie anerkannte Flüchtlinge, schreiben die Forscher. Dadurch bekämen sie weniger soziale Hilfe als etwa Asylbewerber aus Syrien oder Afghanistan. In Deutschland ist die Situation genau andersrum: Hier haben Ukrainer zum Beispiel sofort Anspruch auf das Bürgergeld. Die Leistungen für Asylsuchende fallen hingegen geringer aus.

Daher ergebe sich ein „verblüffender“ Kontrast zwischen den beiden großen EU-Ländern, wie es in dem ESI-Papier heißt. Die monatliche Sozialhilfe für Ukrainer in Deutschland sei dreimal so hoch wie in Frankreich. Auch das, mutmaßt der Thinktank, könnte die geringen Flüchtlingszahlen erklären.

Geld ist nicht entscheidend

Migrationsforscher Düvell weist diese These allerdings zurück. „Seit Jahrzehnten kursiert fälschlicherweise die Annahme, dass sich Geflüchtete aufgrund der Höhe von Sozialhilfen für ein Land entscheiden“, sagt er. „Würde das stimmen, hätten Zigtausende Ukrainer Polen und Tschechien für Deutschland verlassen müssen, da sie dort deutlich weniger unterstützt werden. Das ist nicht passiert.“ Sozialleistungen spielten höchstens eine untergeordnete Rolle. Letztlich, bilanziert Düvell, komme es auf drei Punkte an: „Wo kenne ich Leute, wie schwer ist die Sprache und wie weit habe ich es von hier in die Heimat.“