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Rundschau-Debatte des TagesErwartet uns eine neue Flüchtlingswelle?

Lesezeit 5 Minuten
Ein von der libanesischen Armee zur Verfügung gestelltes Handout zeigt ein Boot mit mehr als 100 illegalen Einwanderern an Bord vor der Küste der nordlibanesischen Stadt Tripoli. 

Mehr als 1,1 Millionen Asylanträge wurden voriges Jahr in Europa gestellt.

Der Sommer nimmt langsam Fahrt auf, und das bedeutet auch: Die Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer wie über den Landweg versuchen, nach Europa zu kommen, steigt an. Doch die Rahmenbedingungen in Deutschland haben sich verändert.

Steigende Temperaturen setzen einen Prozess in Gang, den man jedes Jahr aufs Neue beobachten kann: In den Sommermonaten machen sich mehr Migranten auf den Weg nach Europa. Im vergangenen Jahr nahm die Zahl der Asylanträge in Deutschland in den Monaten Juli und August um 17 Prozent zu. Und diesmal?

Wie könnte sich die Lage in diesem Sommer entwickeln?

„Die Zahlen werden wie in jedem Sommer wegen des besseren Wetters leicht steigen – aber es wird keine Situation wie 2015 geben“, sagt Franck Düvell, Migrationswissenschaftler am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Krisen wie etwa der Krieg in Gaza oder die drohende humanitäre Katastrophe im Sudan hätten bislang nur begrenzte Auswirkungen auf Europa. „Das wird sich vermutlich auch im Sommer nicht ändern.“ Auch auf der sogenannten Balkanroute und auf der Route über das Mittelmeer wird die Zahl der Migranten nach Düvells Ansicht nicht so stark steigen: „In der Ägais kommen wegen der Kontrollen nur wenige Schiffe durch. Und ein Migrationsabkommen zwischen nordafrikanischen Staaten könnte sogar dazu führen, dass trotz besseren Wetters weniger Menschen über das Mittelmeer nach Europa kommen.“

Wann ist der Höhepunkt des diesjährigen Zustroms zu erwarten?

Gleichwohl bereiten sich die Sicherheitsbehörden auf steigende Zahlen vor. „Den Peak an Asylbewerbern werden wir wahrscheinlich im September erleben“, sagt Andreas Roßkopf, der bei der Polizeigewerkschaft GdP zuständig für die Bundespolizei ist. Der Beamte blickt unter anderem nach Belarus. Von dort seien zuletzt vermehrt Migranten in die EU gelangt. Laut Roßkopf könne es passieren, dass das Regime um Diktator Alexander Lukaschenko erneut versucht, Geflüchtete als Druckmittel gegen die EU einzusetzen. Das Land „vergibt freizügig Visa an Menschen aus Syrien oder der Türkei und bringt sie an die Grenze zu Polen“, sagt er. Ein solches Szenario gab es bereits 2021.

Was wäre bei einer russischen Sommeroffensive in der Ukraine?

Zwar ist das, was auf dem Balkan passiert, viel relevanter für die Lage in Deutschland, als die Zuwanderung über das Mittelmeer. Entscheidend ist aber vor allem der Krieg in der Ukraine. Eine russische Sommeroffensive könnte Millionen Menschen in die Flucht treiben. „Wir wissen durch den bisherigen Kriegsverlauf, dass etwa 50 bis 70 Prozent der Ukrainer bei einem unmittelbaren Angriff ihre Heimat verlassen“, erklärt Migrationsforscher Düvell. Bereits der russische Einmarsch am 24. Februar 2022 hatte eine solche Fluchtbewegung ausgelöst. Laut den Vereinten Nationen sind bislang fast sechs Millionen Menschen aus der Ukraine in die EU geflohen. Nach dem Kriegsausbruch war die Hilfsbereitschaft in Deutschland hoch, viele Ukrainer kamen in Privatwohnungen unter. Das passiert aber längst nicht mehr so häufig.

Wie sieht die Lage in den Städten und Gemeinden aus?

Die Kommunen tragen die Hauptlast bei hohen Zuwanderungszahlen. Neben den Flüchtlingen aus der Ukraine wurden die Kapazitäten zusätzlich strapaziert von den rund 351.000 Menschen, die im vergangenen Jahr Asyl beantragten. Im Herbst gaben in einer Umfrage der Universität Hildesheim 40 Prozent der befragten Kommunen an, mit der Unterbringung überfordert zu sein. Für sie waren die zuletzt rückläufigen Asylzahlen eine gute Nachricht. Einige Kommunen dürften also mit großer Sorge auf die kommenden Monate blicken. Bereits jetzt sei die Integration der Neuankömmlinge nicht mehr möglich, beklagte kürzlich Landkreistagspräsident Reinhard Sager im Gespräch mit unserer Redaktion. Für die Landkreise sei „völlig klar“: Die Zahl der Flüchtlinge müsse dauerhaft sinken. Doch genau das ist im Sommer erfahrungsgemäß unrealistisch. Bleibt die Frage, ob die Bundesrepublik darauf eingestellt ist.

Ist Deutschland auf eine neue Flüchtlingswelle vorbereitet?

Gerade was die kritische Situation in der Ukraine angeht, ist Forscher Düvell pessimistisch. Er sagt: „Ich sehe nicht, dass Deutschland und die EU darauf vorbereitet sind. Es scheint einfach noch nicht angekommen zu sein, dass es wieder zu einer großen Fluchtbewegung aus der Ukraine kommen könnte.“ Auch die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sieht nicht, dass Deutschland auf eine große Anzahl an Flüchtlingen vorbereitet ist. „Wir erleben seit 2015 einen Rückbau der Infrastruktur für Flüchtlinge“, sagt der flüchtlingspolitische Sprecher Tareq Alaows. Das habe sich auch nicht angesichts der stark gestiegenen Zahlen in den vergangenen zwei Jahren geändert. „Man hat das Gefühl, dass es politisch gewollt ist, dass Deutschland nicht vorbereitet ist.“ Das Bundesinnenministerium gibt zu einer etwaigen Überraschung keine Auskunft. Zur Entwicklung des Migrationsgeschehens äußere man sich nicht, teilt ein Sprecher mit, „da diese sich aufgrund einer Vielzahl von externen Faktoren auch kurzfristig ändern können“.

Was hat sich gegenüber der Situation 2023 verändert?

Die aktuelle Lage ist nicht mit der des Vorjahres vergleichbar. Deutschland versucht inzwischen deutlich stärker, die Migration einzudämmen. Die Ampelkoalition hat stationäre Grenzkontrollen eingeführt, härtere Abschiebemaßnahmen erlassen und geht an den Grenzen konsequenter gegen Schleuser vor. Noch laufen die stationären Kontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz bis zum 15. Juni. GdP-Mann Andreas Roßkopf rechnet mit einer „definitiven“ Verlängerung. „Die politischen Gründe für die Einführung haben sich nicht verändert: Zwar ist die Zahl der illegalen Einreisen zurückgegangen, aber sie ist weiterhin hoch.“ Er weiß aber auch, dass der Effekt der Grenzen von den Entscheidungen anderer EU-Länder abhängt. Denn kontrolliert wird auch in Polen, Tschechien und der Slowakei. Sollten diese Maßnahmen dort zurückgefahren werden, sagt er, „würde sich das unmittelbar auf die Lage in Deutschland auswirken“. Im Falle einer Fluchtbewegung aus der Ukraine bringen die Grenzkontrollen ohnehin nichts. Ukrainer dürfen ohne Visum in die EU reisen und müssen kein Asylverfahren durchlaufen.


Faeser will Regeln für EU-weite Verteilung von Ukrainern

Das Bundesinnenministerium dringt auf einen EU-weit gleichmäßigen Verteilschlüssel für neue Ukraine-Flüchtlinge. Deutschland setze sich „nachdrücklich für eine solidarische Verteilung der Schutzsuchenden ein“, sagte ein Sprecher von Ministerin Nancy Faeser (SPD) der „Welt“. Insbesondere mit Blick auf Sekundärmigration aus anderen EU-Staaten müsse es eine Lösung geben. Bei Sekundärmigration zieht ein Migrant aus dem Land, in dem er zuerst angekommen ist, in ein anderes weiter.

Auf EU-Ebene wird über eine Anschlussregelung für Ukraine-Flüchtlinge verhandelt. Der vorübergehende Schutz nach der Massenzustrom-Richtlinie läuft am 4. März 2025 aus, über eine Folgeregelung ist noch nicht entschieden. Bislang können sich Ukrainer ihr Zielland in der EU frei aussuchen, sie können auch weiterreisen. Deutschland hat mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine aufgenommen.

Bayern Innenminister Joachim Herrmann kritisierte, die Bundesregierung scheine derzeit „überhaupt keinen Versuch zu unternehmen“, ukrainische Flüchtlinge gleichmäßig in ganz Europa zu verteilen. „Das führt dazu, dass insgesamt im Moment in Deutschland etwa zwanzigmal so viele Ukrainer sind wie in Frankreich“, sagte der CSU-Politiker. (dpa)