„Wir setzen dem etwas entgegen“Gedenken zur Reichspogromnacht in Kölns Synagoge

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Rund 500 Menschen versammelten sich in der Synagoge an der Roonstraße.

Rund 500 Menschen versammelten sich in der Synagoge an der Roonstraße.

Rund 500 Menschen hatten sich im jüdischen Gotteshaus an der Roonstraße eingefunden, um an den 85. Jahrestag der Reichspogromnacht zu gedenken.

War ein Gedenken an die Reichspogromnacht von 1938 jemals so aktuell, die Vergangenheit so gegenwärtig? Mit den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 wurde der Kontakt zu Juden untersagt. Heute trauen sich viele jüdische Eltern nicht, ihre Kinder in die Schule oder den Kindergarten zu schicken. In der Reichspogromnacht wurden Juden ermordet und Synagogen niedergebrannt. Heute werden Juden bedroht und Anschläge auf Synagogen verübt. Nur zwei Beispiele von Gegenüberstellungen, mit denen Schüler einige Ereignisse aus der Zeit des Nationalsozialismus gegenwärtigen Entwicklungen in Beziehung setzten.

Es waren insbesondere die Lieder und szenischen Beiträge von Schülern der Königin-Luise-Schule sowie des Kinderchors der Synagogen-Gemeinde Köln (SGK), die das traditionelle Gedenken an jene Nacht, in der die sieben Synagogen in Köln zerstört wurden, eindrucksvoll und bewegend prägten.

Wir spüren, dass die Gefahr einer Entdemokratisierung im Nachkriegseuropa noch nie so groß war wie heute.
Jürgen Wilhelm, Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit

Rund 500 Menschen hatten sich im jüdischen Gotteshaus an der Roonstraße eingefunden, um an den 85. Jahrestag der Reichspogromnacht zu gedenken. Darunter Vertreter der Stadtgesellschaft, des Landschaftsverbands Rheinland, Landtagsabgeordnete, Weihbischof Rolf Steinhäuser sowie Vertreter aller Ratsfraktionen. „Sie sind willkommen“, begrüßte SGK-Gemeindevorstand Michael Rado die Gäste und ergänzte: „Sie sind da in einer Zeit, in der wir Sie brauchen.“

Bögen in die Gegenwart geschlagen

Ähnlich wie die Schüler im Verlauf der Veranstaltung leitete Rado diese bereits mit einem Bogen von 1938 in die Gegenwart ein: „Draußen steht die Polizei zu unserer aller Sicherheit und bewacht die Synagoge. 1938 stand die Polizei daneben und unternahm nichts.“

Durch die aktuellen Ereignisse bekam das diesjährige Gedenken eine besondere Bedeutung. In allen Redebeiträgen wurde die katastrophale Zäsur betont, die die Reichspogromnacht für jüdisches Leben ebenso markierte wie der Terror der Hamas vor vier Wochen. „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen“, leitete der nordrhein-westfälische Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Nathanael Liminski, seine Rede mit einem Zitat des Holocaust-Überlebenden Primo Levi ein. „Man kann heute nicht an 1938 denken ohne an 2023 zu denken“, so der Politiker. „Auch einen Monat nach dem Terror muss klar sein, wer Täter, wer Opfer ist – eine Umkehr darf es nicht geben.“ Jüdisches Leben gehöre zur Mitte der Gesellschaft, „und dort werden wir es behalten“.

Reker: Lackmustest für Erinnerungskultur

Oberbürgermeisterin Henriette Reker bezeichnete das Gedenken an die Reichspogromnacht als Lackmustest für die deutsche Erinnerungskultur: „Wie sehr uns die historische Verantwortung in die Pflicht nimmt, hat der 7. Oktober gezeigt. Ich habe den Wunsch, dass aus dem Wachhalten der Erinnerung an die Verbrechen der Shoah die Kraft zu Zivilcourage und aufrechter Haltung gegen Antisemitismus erwächst.“

Dazu bekannten sich auch Vertreter der christlichen Kirchen. In einer wechselweise vorgetragen Rede bekannten Robert Kleine, der Katholische Stadtdechant, sowie der Stadtsuperintendent des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region, Bernhard Seiger: „Die Kirchen haben über Jahrhunderte gegenüber den Menschen jüdischen Glaubens unermessliche Schuld auf sich geladen und sind mitverantwortlich für den jahrhundertelangen Antisemitismus und die Vertreibung und die Vernichtung von Juden.“ Sie müssten sich deutlich bekennen: „Die christlichen Kirchen können nicht existieren, ohne klar an der Seite des Volkes Israel zu stehen und ohne ihre jüdischen Wurzeln zu achten.“ Die Geistlichen listeten eine Reihe von Handlungsempfehlungen auf, damit aus dieser Haltung die notwendigen Konsequenzen gezogen werden: etwa klare Worte der Solidarität, Teilnahme an Kundgebungen, Melden von Antisemitismus, Bildungsarbeit oder Begegnungen.

Dies nahm Professor Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, auf und ergänzte: „Wir Individuen sind gefordert.“ Mit Blick auf das Motto der Veranstaltung „Demokratie in Gefahr – Never again is now!“ warnte er: „Wir spüren alle, dass die Gefahr einer Entdemokratisierung im Nachkriegseuropa noch nie so groß war wie heute.“ Auch in Köln komme es immer wieder zu antisemitischen Handlungen und Übergriffen. Wilhelm blickte abschließend nach vorne und hob hervor: „Wir setzen dem etwas entgegen: Kundgebungen, Aufrufe, Ansprachen, Schweigemärsche und andere Formen der Solidarität.“

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