Prominenter Kirchenhistoriker im Interview„Pluralismus ist legitim und katholisch“

Lesezeit 12 Minuten
Wolf_von_Catrin_Moritz

Prof. Hubert Wolf lehrt Kirchengeschichte an der Universität Münster. 

  • Gefährdet die Reformdebatte auf dem Synodalen Weg den Zusammenhalt der katholischen Kirche? Oder liefert die kirchliche Tradition sogar Ansatzpunkte, um etwa die Rolle von Frauen neu zu verstehen?
  • Raimund Neuß fragte den Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf.

Köln – Im Februar haben wir wieder eine Vollversammlung des Synodalen Weges. In der Vergangenheit hat zum Beispiel der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki kritisiert, der Blick auf die Tradition spiele bei diesem Weg keine Rolle mehr. Hatte er Recht?

Das Gegenteil ist der Fall. Katholikinnen und Katholiken entdecken gerade in den letzten Jahren die Tradition der Kirche in ihrer ganzen Vielfalt neu. Sie lassen sich nicht mehr von irgendwelchen Hierarchen sagen, was legitime Tradition ist und was nicht. Denn die Geschichte des Katholizismus verbirgt einen wahren Schatz alternativer Modelle zu angeblich ewigen Wahrheiten. Das entspricht auch der ursprünglichen Bedeutung von kat-holon, was das Ganze, Umfassende bedeutet. Als ich darüber ein Buch mit dem Titel „Krypta“ geschrieben habe, bekam ich viele positive Reaktionen von sogenannten einfachen Gläubigen, die mir sagten, toll, jetzt bekommen wir endlich die Argumente gegen diejenigen an die Hand, die behaupten, nur dieses oder jenes gehöre zur Tradition. Manche von diesen angeblich ewigen Wahrheiten stellen sogar eine dezidierte „Erfindung“ des 19. Jahrhunderts dar. Dass ein Papst erklärt, „Die Tradition bin ich“, wie es Pius IX. vor 150 Jahren bei der Definition des Unfehlbarkeitsdogmas getan hat, lässt sich nur schwer mit dem katholischen Verständnis von Tradition zusammenbringen.

Aber wenn wir mal bei Pius IX. und seinen Nachfolgern bleiben: Heute gibt es Leute, die sagen, jetzt werde die Autorität des Papstes geleugnet, und das sei häretisch.

Ja, das sagt zum Beispiel der Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller. Aber solche Leute sollen doch erst einmal erklären, welche Formen des Gehorsams sie eigentlich gegenüber dem Papst selbst aufbringen. Nach ihrer Auffassung soll man dem Papst gegenüber gehorsam sein, wenn er sagt, was ihnen passt. Wenn es ihnen aber nicht passt, wie etwa bei der Zurückdrängung des alten Messritus, bei der Corona-Impfpflicht für den Vatikan und seine Besucher oder bei synodalen Elementen, dann ist es mit dem Gehorsam dieser Herren nicht so weit her. Und dass es einen unfehlbaren Papst gibt, dieses Dogma hat eben erst das Erste Vatikanum vor 150 Jahren beschlossen.

Zur Person

Prof. Hubert Wolf ist katholischer Priester und lehrt Kirchengeschichte an der Universität Münster. In seinem Buch „Krypta“ hat er auf verschüttete kirchliche Traditionen aufmerksam gemacht, die die Gegenwart bedeutsam sein könnten. In seinem letzten Buch „Der Unfehlbare,. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“ befasst er sich unter anderem mit der Definition des Unfehlbarkeitsdogmas auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870. (rn)

Dazu sagen brave Katholiken: So ein Dogma fixiert doch nur, was immer schon für wahr gehalten wurde.

Schön, wenn das so wäre. Diese Kontinuität des Lehramts ist aber eine Fiktion. 150 Jahre lang hat die Kirche Religions- und Gewissensfreiheit abgelehnt, dann hat das Zweite Vatikanum sie als Menschenrecht anerkannt. Ein absoluter Bruch. Und selbst gemäßigte Anhänger des Unfehlbarkeitsdogmas hatten den Papst vor dessen Verkündung aufgerufen, bevor er unfehlbar spreche, müsse er die Traditionen aller Kirchen befragen und eine einmütige Annahme durch die Gläubigen zur Voraussetzung machen. Das Kirchenrecht fordert Erwachsene zu kindlichem Gehorsam auf. Aber das ist keine Kategorie für mündige Christinnen und Christen. Was wir brauchen, ist eine Zustimmung zu Grundüberzeugungen des Glaubens, die in sich plausibel sein müssen.

Sie haben in Ihrem letzten Buch sogar von der „Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“ gesprochen. War der Traditionsbruch wirklich so radikal?

Es war eher eine Erfindung von Tradition. Dabei wurde so getan, als sei die ultramontane Kirche uralt. Doch der Einheitskatholizismus ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein sollte man eher von Katholizismen im Plural sprechen als von Katholizismus in der Einzahl. Es gibt sogar gleichzeitig ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Realisierung des Katholischen, ohne dass das die Einheit der Kirche gefährdet hätte. Im frühen Mittelalter liefen etwa zwei ganz unterschiedliche Modelle von Buße nebeneinander her: Im Mittelmeerraum ein einmaliges öffentliches Sündenbekenntnis und die Lossprechung nach einem Jahr durch den Priester. In Irland dagegen Beichte so oft wie nötig, Lossprechung durch Mönche und Nonnen. Sprich: Auf der einen Seite Vollmacht durch Weihe, auf der anderen Vollmacht durch Radikalität der Nachfolge Christi. Im 19. Jahrhundert hat sich dann eine Kirchenpartei, wir nennen sie die ultramontane, einfach mit der Kirche gleichgesetzt. Das Ergebnis war eine Kirche, wie wir sie vorher nicht gekannt haben. Wir kannten vorher kein Unfehlbarkeitsdogma, wir kannten auch nicht die 1854 definierte Unbefleckte Empfängnis Mariens – der Kirchenlehrer Thomas von Aquin hatte sie entschieden abgelehnt.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wenn man im alten Irland bei Frauen beichten konnte – ließen sich aus der Vielfalt der Traditionen auch Modelle für die Rolle von Frauen in der heutigen Kirche ableiten?

Sicher. Es gibt einschlägige Beispiele. Selbstverständlich gab es etwa weibliche Diakone, und ich zitiere bewusst die männliche Form: Das war kein Diakonat light für Frauen, sondern das gleiche Amt, das auch Männer innehatten. Wir kennen sogar Weiheformulare, die für Männer und Frauen identisch waren.

Der Papst hat das doch gerade untersuchen lassen und befunden, es sei unklar. ob Frauen wirklich die gleiche Ordination als Diakone erhalten hätten wie Männer…

Er will es ja weiter untersuchen lassen, aber ich schicke ihm gerne einschlägige Quellen und Literatur zur Lektüre. Man brauchte weibliche Diakone schon wegen der Erwachsenentaufe. Ein Mann hätte niemals eine erwachsene Frau entkleiden und bei der Taufe dreimal untertauchen dürfen. Da in der alten Kirche nur Bischöfe und Diakone tauften, brauchte man weibliche Diakone. Zwei weitere Punkte: Papst Franziskus hat alte Aussagen des Hippolyt von Rom wiederentdeckt und Maria von Magdala zur „Apostelin der Apostel“ erhoben, denn sie hat im Auftrag Jesu den Aposteln seine Auferstehung verkündet. Apostel und nach ihnen Bischöfe kann es also nur geben, wenn sie eine Apostelin zur Voraussetzung haben. Und die großen Äbtissinnen des Mittelalters waren rechtlich nichts anderes als Bischöfe. Sie leiteten Diözesen, wenn auch ohne Bischofsweihe. Viele Bischöfe hatten übrigens auch keine. Aber die Bischofsweihe ist erst seit dem Zweiten Vatikanum ein Sakrament. Thomas von Aquin lehnte sie noch ab, die höchste Weihestufe war die Priesterweihe.

Aber eine Priesterweihe hatten solche Äbtissinnen wie Hildegard von Bingen doch auch nicht, oder?

Die haben Frauen, historisch betrachtet, nicht erhalten. Allerdings sind Priester im Altertum und im Frühmittelalter allgemein schwach bezeugt, weil man sie nicht brauchte. Es gab eine Stadtkultur. Jede Stadt hatte ihren Bischof und dieser seine Diakone. Erst unter den Merowingern und Karolingern, als es um Eucharistiefeiern in ländlichen Gebieten ging, brauchte der Bischof Priester. Zuvor nahm er selbst diese Funktion wahr. Ich sage aber: Natürlich ist es einfach, wenn man in der Kirchengeschichte ein konkretes Modell findet, wie bei den weiblichen Diakonen, auf das man sich heute beziehen kann. Die Kirchengeschichte zeigt aber auch grundsätzlich legitime Transformationsprozesse. So hat Christus sicher keine Kardinäle eingesetzt. Ist ihr Amt deshalb illegitim? Christus hat nicht einmal Diakone eingesetzt, das haben die Apostel getan. Jesus von Nazareth predigt seiner jüdischen Umwelt, wenn er von Erlösung reden will, vom Reich Gottes als sozialer Größe, Paulus hat ein griechisch gebildetes Publikum vor sich und verwendet deshalb den individuellen Begriff der Gnade, mit dem diese Leute etwas anfangen können. Ist das illegitim? Christus ist in einer konkreten historischen Situation Mensch geworden, Inkarnation ist daher das Prinzip der Kirche und Wirkungsgeschichte lebt vom Entwicklungsgedanken wie jede Geschichte.

Könnte der Blick auf solche historischen Transformationsprozesse auch helfen, heutige Streitfragen, etwa den Umgang mit Homosexualität, zu beantworten – vielleicht auch im Bistum Aachen anders zu beantworten als im Erzbistum Mombasa?

Pluralismus ist legitim und katholisch. Und Kirche kann dabei auch von der Welt lernen und weiß nicht alles besser. Ich gebe mal ein ganz anderes Beispiel für Inkulturation: Ich war bei der Amazonassynode eingeladen und habe mit indigenen Menschen darüber gesprochen, wie schwierig für mich als Europäer der Umgang mit dem Sakrament der Krankensalbung ist. Die haben geantwortet: Ja, Du bist Europäer, aber für uns ist die Krankensalbung fast wichtiger als die Eucharistie, denn in unserer Kultur ist das Anfassen zentral. Wir sagen nicht Baum, sondern wir fassen seine Rinde an und spüren ihn so, und auch die Zuwendung Gottes können wir nur durch Berührung ausdrücken. Deshalb verlieren wir so viele Gläubige an die Evangelikalen, und deshalb brauchen wir die Erlaubnis für Nichtpriester, die Krankensalbung zu spenden. Doch zurück zu Ihrer Frage: Franziskus hat in seiner Umweltenzyklika eingeräumt, wo die Bibel etwa zu naturwissenschaftlichen Fragen keine schlüssige Antwort gebe, müsse die Kirche auf die Antworten der Wissenschaft hören, etwa, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Dann könnten Menschen im christlichen Geist auch etwas tun, diesen zu bremsen. Analog: Was Mediziner und Sozialwissenschaftler zur sexuellen Identität feststellen, muss die Kirche zur Kenntnis nehmen. Dann wird sie bei Homosexualität nicht mehr vorschnell von Sünde reden, sondern sich den Menschen zuwenden, die Gott so und nicht anders geschaffen hat.

Heftige Auseinandersetzungen gibt es auch über den Umgang mit Geschiedenen. Die konventionelle Lesart lautet: Ehen sind unauflöslich, dafür hat Rom vor 500 Jahren sogar eine Kirchenspaltung hingenommen, als der Papst dem englischen König Heinrich VIII. die Scheidung verweigerte.

Naja, das mit Heinrich VIII. war eine rein politische Entscheidung, getroffen von Papst Clemens VII., der andererseits die Einberufung eines Konzils nach der Reformation verweigerte und damit entscheidenden Anteil an der Kirchenspaltung im heutigen Deutschland hatte. Heute geht es um folgendes: Seit dem Konzil von Trient gilt die Ehe definitiv als Sakrament. Wir wissen aber auch aus dem Neuen Testament, dass die Kranken den Arzt brauchen, nicht die Gesunden. Und dass Ehen scheitern können, ohne dass man immer klar sagen kann, wer schuld ist. Eine Frau hält es mit einem Alkoholiker nicht mehr aus, muss mit ihrem Kind ausziehen und trifft einen anderen Mann, mit dem sie eine richtig gute Ehe führt, die katholischen Idealen entspricht. Nach langem Ringen möchte sie zur Kommunion, weil sie das für ihr religiöses Leben braucht. Was soll ich als Priester sagen? Es geht nicht um ein Laissez-faire, aber ich habe mich mehrfach entschieden, solche Menschen nach reifer Entscheidung und entsprechender Buße wieder zu den Sakramenten zuzulassen. Wir haben doch die Vollmacht zu binden und zu lösen. Und wie konsequent ist es denn, bei Eheproblemen derart radikal durchzugreifen, bei Bischöfen, die Missbrauch vertuschen, aber beide Augen zuzudrücken?

Wir sprachen eben über die Reformation. Auf katholischer Seite dominiert das Bild von Teilen der Kirche, die sich da von den gemeinsamen Wurzeln abgelöst hätten. Haben Kirchen der Reformation vielleicht nur andere Teile der gemeinsamen Tradition aktualisiert?

Zugespitzt lautet diese These: Uns Katholiken gibt es seit 2000 Jahren, die Protestanten erst seit 500. Nur sie stimmt nicht. Die Kirche des späten Mittelalters war breit katholisch. Heute ist es so, dass das, was früher in ein und derselben Kirche möglich war, in verschiedene Konfessionen ausgelagert ist. Luthers Position zur Rechtfertigung war die des heiligen Augustinus. Wenn sie Luther exkommunizieren, müssen sie eigentlich auch Augustinus exkommunizieren. Neben dieser augustinischen Tradition gibt es eine andere Linie, die durch Erasmus von Rotterdam geprägt ist und die Freiheit des Menschen betont – und damit auch die Notwendigkeit, selbst etwas für das Heil zu tun. Auch das ist katholisch. Mein Vor-Vorgänger hier auf den Lehrstuhl in Münster, Erwin Iserloh, hat immer gesagt: Luther rang einen Katholizismus in sich nieder, der nicht mehr katholisch war. Heute haben die Katholiken von den Protestanten gelernt, wie wichtig das Wort Gottes in der Liturgie ist, und Protestanten übernehmen katholische Symbole wie die Taufkerze, die sie früher für Teufelszeug hielten. Entweder gelingt es uns als Christen, gemeinsam die Stimme zu erheben, und uns für Werte einzusetzen, die der freiheitliche Staat sich selber nicht schaffen kann, oder der Katholizismus verkommt zur Sekte.

Die katholische Kirche hat große Schwierigkeiten, die Gläubigen wirklich für alle sieben Sakramente zu begeistern, die sie heute zählt. Kann sie da etwas aus der Geschichte lernen?

Der Begriff des Sakraments wurde erst im 12. Jahrhundert definiert. Und bis ins 15. oder 16. Jahrhundert ist auch ihre Zahl unklar, es sind 15 bis 30. Zum Beispiel ist die Königssalbung ein Sakrament mindestens auf der Stufe der Weihe zum Diakon, nur deshalb durfte der König in der Messe das Evangelium vortragen. Auf die Zahl sieben ist man endgültig erst auf dem Konzil von Trient gekommen, weil die Reformatoren nur zweieinhalb hatten.

Zweieinhalb? Taufe, Abendmahl und …?

Die Beichte! Luther hat die so halb: Sein kleiner und sein großer Katechismus, der mit der Vermahnung zur Beichte, unterscheiden sich. Landeskirchen wie die bayerische kennen noch die Privatbeichte. Auch wenn man heute mit manchen Sakramenten Schwierigkeiten hat, können sie ja ihre Bedeutung wandeln. Das Zweite Vatikanum hat die Letzte Ölung zur Krankensalbung uminterpretiert. Wir sollten nicht auf die einzelnen Sakramente allein schauen, sondern auf die Bedeutung des Sakramentalen an sich: Es geht neben dem Wort Gottes auch um sinnenhaft erfahrbare Zeichen der Nähe Gottes. Sagt ein Kuss nicht mehr als tausend Worte? Geht es nicht heute ums Ganzheitliche? Warum hängen Agnostiker Engel ins Fenster? Warum so viele Kerzen im Advent? In diesem Suchen nach dem Affektiven, Ganzheitlichen steckt eine Riesenchance. Gerade die katholische Tradition hat hier unentdeckte Potenziale.

Ihr Fazit zum Umgang mit Traditionen?

Wir haben in der katholischen Kirche Gott sei Dank zwei Erkenntnisquellen, Schrift und Tradition. Beides muss zusammenkommen. Das wehrt jeder Einseitigkeit: Wer sich nur auf die Schrift konzentriert, wird leicht zum biblizistischen Fundamentalisten. Wer nur an die Tradition denkt, kann zum Traditionalisten werden. Wer beides verbindet, sieht in der Tradition die einzigartige Möglichkeit, einen 2000 Jahre alten Text immer neu zu aktualisieren. Die Tradition ist ein lebendiger Strom, und auch wenn das Lehramt rechts und links immer höhere Betonmauern aufrichtet, geht es irgendwann wie im Ahrtal: Es kommt zu einer gewaltigen Flut, die alles mitreißt. Viel ist nach dem jüngsten Missbrauchsgutachten von den klerikalen Fundamenten nicht stehen geblieben.

Rundschau abonnieren