Rundschau-Debatte des TagesWie begeistert man Jungwähler für Europa?

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Die Nationalflagge von Deutschland und die Fahne der EU.

Die Nationalflagge von Deutschland und die Fahne der EU.

Bei der Wahl zum EU-Parlament im Juni dürfen hierzulande erstmals auch 16- und 17-Jährige ihre Stimme abgeben. Von den Parteien werden sie umworben. Eines aber werden die Politiker den Jugendlichen nur schwer erklären können.

In dreieinhalb Monaten ist Europawahl. Das Besondere: Mit der Absenkung des Wahlalters werden in Deutschland erstmals auch Jugendliche ab 16 Jahren die Möglichkeit haben, ihr Votum abzugeben. Im Vorfeld dürften dabei nicht nur die Ampel-Parteien die Jugendlichen umwerben. Doch wie lassen sich die Millionen Jungwähler überhaupt für die Wahl begeistern?

Der 16-Jährige ist noch ein wenig ratlos. Katarina Barley? Nie gehört. Ebenso wenig wie Terry Reintke, Martin Schirdewan oder Maximilian Krah. Mit dem Alter des Jugendlichen hat das aber nichts zu tun; auch den meisten Erwachsenen sind die Namen der deutschen Spitzenkandidaten für das Europäische Parlament kaum geläufig. Marie-Agnes Strack-Zimmermann erkennt der Zehntklässler immerhin auf einem Foto wieder – „die gibt ganz coole Antworten in der ,Heute-Show“.

Gewinn für Demokratie und Akzeptanz der EU?

Tatsächlich geht es für den Schüler und seine Altersgenossen um eine Premiere: Erstmals dürfen Minderjährige ab 16 ihre Stimme zur Wahl des Europaparlaments abgeben. Die Zahl der Wahlberechtigten am 9. Juni steigt infolge dessen um rund 1,4 Millionen. Was bedeutet das? Ein Gewinn für die Demokratie? Oder erhalten die Europaskeptiker Zulauf?

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„Man sollte nicht mit Revolutionen rechnen, dazu ist die Gruppe zu klein. Gleichwohl kann es sich für die Parteien lohnen, die Erstwähler gezielt anzusprechen, weil sie noch nicht so festgelegt sind in ihren Ansichten“, sagt Thorsten Faas, Professor für Politische Soziologie am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Grundsätzlich hält Faas die Absenkung des Wahlalters für richtig. „Gerade in Zeiten des demografischen Wandels eröffnet man jungen Wählerinnen und Wählern damit die Möglichkeit, sich politisch zu beteiligen“, sagt Faas.

Aus Studien wisse man, dass es im Alter von 16 bis 18 keine gravierenden Unterschiede beim politischen Interesse und Wissen gebe. Das von Kritikern vorgebrachte Argument der Volljährigkeit gegen das Votum ab 16 sei deshalb wenig überzeugend. Tatsächlich weist auch die Entwicklungspsychologie darauf hin, dass Jugendliche heute früher reif seien als vergangene Generationen; damit seien sie auch früher in der Lage, politische Entscheidungen zu treffen.

Einen Gesetzentwurf zur Änderung des Europawahlgesetzes hatten SPD, Grüne und FDP im Bundestag Ende 2022 gegen die Stimmen von Union und AfD gebilligt. Gerade die junge Generation sei von aktuellen politischen Entscheidungen betroffen, die weit über die Legislaturperiode hinausgingen, argumentierten die Ampel-Fraktionen. Als Beispiele gelten der Kampf gegen den Klimawandel, die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme angesichts des demografischen Wandels sowie die Setzung von Prioritäten bei öffentlichen Investitionen und die Regulierung des Internets.

Wie wollen Parteien die Jungwähler erreichen?

„Jugendliche waren in der Politik bislang kaum repräsentiert, dabei haben sie ein Recht darauf, Europa mitzugestalten. Die Entscheidungen von heute stellen sie vor die vollendeten Tatsachen von morgen“, sagt FDP-Spitzenkandidatin Strack-Zimmermann. „Um heute die richtigen politischen Entscheidungen für die Welt von morgen zu treffen, finde ich den Austausch mit jüngeren Menschen sehr bereichernd.“

Ähnlich klingt es bei EU-Vizeparlamentspräsidentin und SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley: „Viele wichtige Themen in Europa betreffen direkt die jüngere Generation: soziale Absicherung, Klimaschutz und Datenschutz sind nur einige davon. Diese Themen prägen ihre Zukunft.“ Deshalb habe sie sich auch für das Wahlalter von 16 stark gemacht, sagt Barley. Nun werde sie sich dafür einsetzen, „dass möglichst viele junge Menschen wählen gehen und der Politik ein starkes Mandat erteilen“.

Dabei werden vor allem die sozialen Netzwerke eine große Rolle spielen. „Unsere Kommunikation mit Erstwählern und Erwählerinnen wird vermehrt im digitalen Raum stattfinden. Viele junge Menschen informieren sich heutzutage ausschließlich über Social Media“, sagt Martin Schirdewan, Linken-Spitzenkandidat für die Europawahl.

Tatsächlich ist die Bedeutung von Social Media im Wahlkampf elementar. Das hat die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung bereits zur Europawahl 2019 herausgefunden. Vor allem Instagram ist demnach zu einer der relevantesten Plattformen für politische Kommunikation geworden. Aber auch Tiktok mit seinen Videoschnipseln ist aus dem Alltag der meisten Jugendlichen nicht wegzudenken.

Zielgruppe für Rechtspopulisten?

Als besonders effektiv gilt Beobachtern zufolge das Engagement der AfD in den sozialen Netzwerken; die Partei nutzt geschickt verkürzte und auf den schrillen Effekt zugeschnittene Darstellungen, für die sich der digitale Raum anbietet. Algorithmen lieben Aussagen, die stark polarisieren. Analysen prognostizieren einen starken Rechtsruck bei der Europawahl.

Das muss aber nicht heißen, dass die jungen Neuwähler nun vor allem Rechtspopulisten ihre Stimme geben. „Den stärksten Rückhalt haben rechte Parteien nicht bei der Gruppe von Erstwählern“, sagt Parteien-Experte Faas. Das wisse man aus Erfahrung. Wie sich die jungen Leute entscheiden, werde maßgeblich von den Themen abhängen, die im Wahlkampf die Agenda dominieren.

Vorerst einzige Wahl mit abgesenktem Alter?

Obwohl das Werben um die Minderjährigen noch gar nicht richtig begonnen hat, werden alle Parteien den jungen Leuten eines nur schwer erklären können. „Die Europawahl wird die erste bundesweite Wahl mit abgesenktem Wahlalter sein. Einige der Wählerinnen und Wähler werden aber die Erfahrung machen, dass sie bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr nicht abstimmen dürfen“, legt Faas den Finger in die Wunde. Das sei kaum zu rechtfertigen und erzeuge unnötige Frustration. Ein Wahlalter von 18 Jahren für den Bundestag dürfte mittelfristig also kaum zu halten sein.

Oder wie es Thomas Geisel, der für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ins Europaparlament einziehen möchte, ausdrückt: 16- und 17-Jährige sollten schon allein deshalb wahlberechtigt sein, „weil für die Jungen politisch mehr auf dem Spiel steht als für die Alten. Wer noch 60 Jahre vor sich hat, hat naturgemäß ein existenzielleres Interesse an einer nachhaltigen Politik als jemand, der den Großteil seines Lebens schon hinter sich hat.“


Letzte Generation nimmt erste Hürde für Kandidatur

Die Klimaprotestgruppe Letzte Generation hat eigenen Angaben zufolge die ersten Hürden für die Kandidatur zur Europawahl überschritten. Innerhalb von sechs Stunden nach Bekanntgabe ihrer Pläne sei bereits die erhoffte Spendensumme von insgesamt 50.000 Euro eingegangen, teilte die Gruppe mit. Außerdem hätten sich inzwischen mehr als 100 Unterstützerinnen und Unterstützer gemeldet, um nun die für die Wahlzulassung nötigen 4500 Unterschriften zu sammeln. Die Gruppe hatte Anfang Februar mitgeteilt, eine „sonstige politische Vereinigung“ mit dem Namen „Parlament aufmischen – Stimme der Letzten Generation“ gegründet zu haben, mit der sie bei der Europawahl am 9. Juni antreten will. Im Gegensatz zu Bundestagswahlen können an Wahlen zum EU-Parlament neben Parteien auch solche Vereinigungen teilnehmen. Wenn sie mehr als 0,5 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten, stehen ihnen staatliche Zuschüsse zu. (afp)

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