Interview zu SolidaritätBei der Flut geglänzt, in der Corona-Pandemie versagt?

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Fluthelfer im Einsatz in einem Hochwassergebiet in Rheinland-Pfalz (re.) und ein Teilnehmer eines Corona-Protests (li.). (Archivbilder)

Köln – Sie war und wird hochgelobt: Die Solidarität nach der Flutkatastrophe. Auch heute, vier Monate danach, gibt es immer noch Helfer, die unermüdlich in den Flutregionen im Einsatz sind, um beim Wiederaufbau zu helfen. Während in der Flut das Lob der Solidarität nicht abriss, konnte und kann man in der Corona-Pandemie eher den gegenteiligen Eindruck gewinnen. Da wurden und werden Partys gefeiert, Masken nicht getragen, Abstände nicht eingehalten und Impfen kommt für viele auch nicht infrage.

Aber ist der Grund dafür wirklich ein Mangel an Solidarität? Andreas Glöckner, Professor für Sozialpsychologie an der Universität zu Köln gibt Antworten.

Warum ist Solidarität wichtig?

Solidarität wird in der Psychologie dahingehend untersucht, ob Menschen anderen helfen, also ob sie prosozial sind und eigene Ressourcen abgeben oder mit anderen kooperieren, um gemeinsam ein Ziel zu erreichen. Beides ist wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft, damit man auf der einen Seite als Gesellschaft vorankommt und auf der anderen Seite die Gesellschaft nicht auseinanderbricht, sondern wir eine geteilte soziale Identität behalten.

Diese kann dann auch helfen gewisse Herausforderungen wie die Coronapandemie oder eben auch Flutkatastrophen zu überstehen. In solchen Krisen ist es ganz besonders wichtig, dass man als Gesellschaft zusammenhält.

Coronapandemie: Prosozialität ist zu Beginn gestiegen

Man konnte in der Corona-Pandemie durchaus den Eindruck bekommen, dass es bei vielen mit der Solidarität nicht weit her ist, Corona-Schutzmaßnahmen oft ignoriert worden sind und werden? Können Sie das bestätigen?

Ich kann ihre Beobachtung empirisch nicht bestätigen, unsere Daten zeigen, dass in der Coronapandemie, zumindest am Anfang, die Prosozialität sogar gestiegen ist. Menschen waren mehr bereit anderen etwas abzugeben.

Wir haben das mit einfachen Spielen untersucht. Personen haben Geld bekommen und konnten einen Teil davon anonym an eine andere Person weitergeben, einmal vor der Pandemie und einmal am Anfang der Pandemie. Die durchschnittliche Bereitschaft etwas abzugeben, ist zum Beginn der Pandemie gestiegen.

Auf der anderen Seite sehen oder sahen wir die große Unterstützung bei der Flutkatastrophe. Die Unterschiede in der Wahrnehmung speisen sich unter anderem aus einem zentralen Unterschied in dem, was wir denn eigentlich beobachten. Es gibt in der Gesellschaft eine relativ breite Verteilung von Prosozialität. Es gibt Personen, die sind altruistisch oder kooperativ. Denen ist das Wohlbefinden von anderen sehr wichtig. Es gibt Personen, die fokussieren vor allem auf ihr eigenes Wohlbefinden, das sind die Individualisten und es gibt sogar einige, die es freut, dass andere weniger haben als man selbst, und dass es denen schlechter geht, das sind die kompetitiven Personen.

Was sie verstärkt beobachten in der Coronapandemie sind die Personen, die nicht prosozial sind, diese bekommen besonders viel Aufmerksamkeit. Da gibt es einige in jeder Gesellschaft. In der Flut etwa beobachten sie das andere Ende der Verteilung, das heißt also die besonders Prosozialen. Sie nehmen einfach andere Teile der Gesellschaft wahr. Diese Wahrnehmungen sind also gar nicht unbedingt inkonsistent, sie beobachten einfach nur verschiedene Personen in anderen Situationen.

Gibt es einen generellen Unterschied zwischen den verschiedenen Situationen?

Ja, es gibt eine große Menge an psychologischen Unterschieden zwischen den beiden Situationen. Eines der Grundprobleme bei Covid-19 war die lange Dauer, bei der es galt Dinge zu unterlassen, ohne, dass das gewisse Konsequenzen hatte. Da sind Menschen recht schlecht drin.

Das heißt, man hat einfach hundertmal die Maske aufgesetzt und es ist nichts passiert, es gab also keine negativen Konsequenzen und dann hat man sie halt vielleicht beim 101. Mal nicht mehr ausgesetzt und das ist hundertmal gut gegangen. Über die Zeit führt das zu einem Verlust von Aufmerksamkeit und auch der Motivation, sich an solche Regeln zu halten.

Die Situation war bei der Flutkatastrophe eine ganz andere, da ging es um einmaliges helfen. Man kann sich einmalig positiv einbringen und das fühlt sich für die Menschen auch gut an. Das heißt: Die Menschen sind durchaus intrinsisch, also aus sich heraus, motiviert Gutes zu tun, ohne, dass es einen externen Anreiz gibt oder sie eine Belohnung dafür erwarten. Das gilt insbesondere für die Prosozialen, die ich vorhin erwähnt habe.

Diese Motivation verstärkt sich zu einem gewissen Teil durch sich selbst, das heißt, es fühlt sich für die Person gut an, zu helfen. Vielleicht klopft ihnen auch noch jemand auf die Schulter, aber das ist dann gar nicht so wichtig. Dass es genug Personen gibt, die das gerne machen, ist wichtig, weil es die Gesellschaft zusammenhält.

Größere Empathie bei besser nachvollziehbaren Situationen

Gibt es einen Unterschied zwischen der eher greifbareren Hilfe in der Flutkatastrophe und dem Unterlassen von Dingen, was in der Coronapandemie nötig war. Letzteres ist ja viel abstrakter. Hat das einen Einfluss auf das Ausmaß der Hilfe?

Das spielt auf jeden Fall eine große Rolle. Das hat sich in der Coronapandemie interessanterweise über die Zeit ein bisschen verändert. Aber Menschen reagieren natürlich viel stärker auf Dinge, die sie sich besser vorstellen können, da entsteht eine stärkere Empathie, ein Mitgefühl und eine stärkere Motivation den anderen zu helfen.

Am Anfang der Coronapandemie haben diese Bilder von Leichen und Särgen aus Italien einen starken Eindruck hinterlassen und zu einem starken Effekt geführt. Mit der Zeit hat das nachgelassen, weil auch die Bilder nicht mehr ganz so stark in den Medien vertreten waren.

Bei der Flutkatastrophe hat man die Bilder gesehen und jeder konnte sich in die Situation hineinversetzen, dass das extrem schlimm für die Betroffenen ist, wenn das halbe Haus weggespült wird, wenn Verwandte aus Fluten gerettet werden müssen oder nicht mehr gerettet werden können. Diese Empathie, dieses Vorstellenkönnen, dieses nicht so Abstrakte spielt auf jeden Fall eine große Rolle beim Helfen.

Wir sehen das in vielen Studien. Beispielsweise sind Menschen viel eher bereit, Personen zu helfen, die identifizierbar sind, also, wenn man von ihnen ein Bild hat, oder den Namen oder auch nur eine Nummer. „Person 1“ sind wir schon mehr bereit zu helfen und abzugeben als irgendeiner Person. Identifizierbarkeit spielt eine große Rolle.

Es gibt interessante Studien, dass man einer Einzelperson, bei einem Einzelschicksal, mehr zu geben bereit ist. Wenn die Anzahl steigt, und es zehn, 100 oder 1000 Personen sind, dann sinkt der Betrag, den man pro Person zu geben bereit ist, weil es dann abstrakter wird. Es gibt klare Hinweise, dass das Konkrete mehr Empathie befördert und Personen bereit sind mehr zu geben.

Kann es auch daran liegen, dass ich im Alltag viel mehr merke, wenn einer keine Maske trägt, als wenn jemand nicht bei der Flut hilft?

Das war der Punkt, den ich am Anfang klarmachen wollte. Viele Personen sehen sie nicht, etwa in der Flutkatastrophe all die Menschen, die nicht aktiv helfen. Die fallen dann nicht auf. Herausstechend und besonders stark wahrnehmbar sind die Personen, die helfen und das sind dann auch die besonders altruistischen und besonders Prosozialen.

Bei Covid-19 haben sie verstärkt das andere Ende der Verteilung der Personen wahrgenommen, also diejenigen, die dagegen verstoßen. Die vielleicht 80 Prozent der Personen, die sich an die Regeln gehalten haben, haben sie nicht bewusst wahrgenommen. Aber die Personen, die gegen die Regeln verstoßen haben, sind verstärkt aufgefallen. Und dann sind da verschiedene Medienberichte über Politiker, die einmal ohne Maske jemanden umarmt haben. Das sind Einzelfälle, die dann noch zusätzliche Aufmerksamkeit erhalten.

Solidarität kann auch Mittel zum Zweck sein

Ist Prosozialität der einzige Grund für solidarisches Handeln?

Es kann natürlich auch andere Aspekte geben. Etwa Reziprozität. Das bedeutet, man erwartet, dass die Person, die einem hilft zurückhilft. Das wäre direkte Reziprozität. Das wird in diesem Fall vermutlich eher nur eine kleine Rolle spielen. Aber es gibt auch indirekte, generalisierte Reziprozität. Man geht dann nicht davon aus, dass dieselbe Person einem wiederum hilft, sondern dass man eine positivere Reputation bekommt und andere einem wiederum zurückhelfen, wenn man mal in Not ist. Oder noch allgemeiner und weniger instrumentell, dass es einfach eine nicht ausgesprochene soziale Norm in der Gesellschaft ist, dass man sich untereinander hilft. Das ist dann eher einer gesamtgesellschaftliche Solidaritätsperspektive, die wir auch tagtäglich erleben.

Kann es sein, dass jemand solidarisch ist, weil er oder sie damit einen bestimmten Zweck oder ein bestimmtes Ziel erreichen will?

Das kann natürlich im Einzelfall auch passieren, dagegen ist man als Gesellschaft nicht gefeit, dass Menschen die Situation strategisch benutzen, um die eigene Reputation oder die Glaubwürdigkeit zu steigern. Das ist beispielsweise daran zu merken, wie wichtig oder unwichtig es Personen ist, dass ihr persönlicher Beitrag öffentlich wahrgenommen wird. Dann geht es mit höherer Wahrscheinlichkeit darum, bestimmte persönliche Ziele zu erreichen. Aber prinzipiell würde ich Menschen, die anderen helfen, erst einmal eine positive Motivation unterstellen.

Solidarität ist ja ein viel genutzter Begriff, etwa auch im Zusammenhang mit den Corona-Impfungen, nutzt sich das auch irgendwann ab? Und ist das denn in dem Zusammenhang überhaupt der richtige Begriff dafür?

Es gibt keine ganz klare begriffliche Abgrenzung. In der Psychologie verwenden wir eher die Begriffe Pro-Sozialität und Kooperation, dass also etwas getan wird, um einen positiven Effekt für andere zu erreichen oder um, das ist Kooperation, ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Wird natürlich die ganze Zeit an so ein Konzept appelliert, kann sich das mit der Zeit abnutzen. Sie können also nicht unendliche Solidarität erwarten. Wenn sie immer nach demselben Aspekt von Solidarität fragen, dann wird sich das abnutzen.

Menschen haben so etwas wie einen inneren mentalen Zähler für gewisse Ausgaben, sie betreiben damit mental accounting also mentale Buchhaltung. Wer schon etwas auf das Solidaritätskonto eingezahlt hat, fühlt sich erstmal ganz gut und nicht unbedingt dazu verpflichtet, beim nächsten Mal wieder solidarisch zu sein. Wer in der ersten Bäckerei zehn Euro für Flutopfer gespendet hat, fühlt sich bei der nächsten Gelegenheit, bei der es um eine andere Art der Hilfe geht, vielleicht nicht so verpflichtet, das nochmal zu tun. Da gibt es gewisse negative Abhängigkeiten. Und natürlich kann niemand unendlich helfen, jeder hat ja ein Limit.

Was waren ihre interessantesten Beobachtungen im Zuge der Corona-Pandemie oder der Flutkatastrophe? Also gab es etwas, wo sie sagen, das war für uns als Psychologen überraschend oder war das alles erwartbar?

Nein, es gab da schon einige Überraschungen, unsere Forschung ist da teilweise an Grenzen gestoßen. Es gibt einiges an Forschung, wie mit Katastrophen umgegangen wird und die Modelle, haben in der Pandemie nicht hundertprozentig zugetroffen. Einige Daten haben gezeigt, dass wir unsere Modelle anpassen müssen. Was sich bestätigt hatte war, dass, wenn Menschen so eine Situation als starke Bedrohung empfinden, dann halten sie das für riskanter und halten sich auch stärker an die Regeln.

Auf der anderen Seite haben frühere Studien gezeigt, dass, wenn mehr über so eine Situation bekannt ist, das Risiko eher niedriger eingeschätzt wird. Die Forschung stammt aber noch aus Zeiten, als es um die Bewertung von Atomkraft ging. Bei Corona war es eher umgekehrt. Je mehr die Menschen darüber wussten, desto höher haben sie das Risiko eingeschätzt. Die Theorie hatte das Gegenteil vorhergesagt, da waren wir etwas überrascht.

Aber gefühlt, ist es eher umgekehrt: Je mehr die Menschen über die Corona-Pandemie wissen, desto unvorsichtiger scheinen sie zu werden.

Also, unsere Daten haben da eher in die andere Richtung gezeigt. Aber die Studie haben wir relativ am Anfang der Pandemie, im Mai vergangenen Jahres, durchgeführt. Das ist ja jetzt eine Weile her, ich kann die spätere Entwicklung nicht empirisch belegen. Aber prinzipiell war zu erkennen, dass es möglich ist, dass in so einer Pandemiesituation viele Menschen an einem Strang ziehen.

Die Akzeptanz der Maßnahmen war mindestens am Anfang sehr hoch. Es war sehr positiv, dass wir als Gesellschaft gezeigt haben, dass wir auf solche Krisen mit gesteigerter Prosozialität sowie relativ geschlossen reagieren können.

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