Direktor des Max-Planck-Instituts„Ich produziere Theorien mit Wahrheitsgehalt“

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Lucio Baccaro

Lucio Baccaro

  • Lucio Baccaro wollte immer schon Wissenschaftler werden.
  • Bernd Imgrund sprach mit dem gebürtigen Italiener und Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung.

Von seinem Büro an der Paulstraße aus blickt Lucio Baccaro auf den Colonius. Aber Köln ist ist nicht wirklich sein Thema – höchstens als Großstadt in Europa.

Eine Frage an den Apulier: Was ist ein „trullo“?

Das ist eine Gebäudeform, die es nur bei uns in Alborello und Umgebung gibt. Das Besondere daran: Das spitz zulaufende Steindach wird ohne Mörtel gebaut. Hintergrund sind die Steuern, die die Bauern einst auf der Basis ihrer Häuser bezahlen sollten. Wenn der Eintreiber kam, konnte man die Dächer schnell einstürzen lassen und behaupten, kein Haus zu besitzen.

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Wovon lebten die Menschen in Ihrem Geburtsort Alborello in den 1970ern, als Sie dort aufwuchsen?

Das war die einzige Dekade, in der die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen dem italienischen Norden und Süden schrumpften. In den Süden wurde investiert, es wurden Schuhe und Kleider produziert. Bei uns in der Nähe, in Taranto gab es sogar das größte Stahlwerk Europas.

Zur Person

Lucio Baccaro wurde 1966 im süditalienischen Alborello in Apulien geboren. Sein Studium der Philosophie an der Universität La Sapienza in Rom schloss er mit summa cum laude ab.

Anschließend begann er ein Studium der Betriebswirtschaft und Politikwissenschaften. Er promovierte an der Universität Pavia und am Massachusetts Institute of Technology in den USA. Nach Forschungsjahren am MIT und bei der International Labour Organization (ILO) übernahm er eine Soziologie-Professur an der Genfer Universität. 2018 folgte er Wolfgang Streeck als Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Baccaro gehört zu den renommiertesten Vertretern der soziologisch und politikwissenschaftlich ausgerichteten, international vergleichenden Politischen Ökonomie.

Lucio Baccaro wohnt in der Südstadt.

Was wollten Sie als kleiner Junge werden?

Ich wollte schon immer Wissenschaftler werden. Die Richtung war mir nicht klar, aber ich habe meiner Mutter immer erzählt, dass ich mal den Nobelpreis gewinnen will.

Wie nahe sind Sie dran?

Das wird nichts mehr, in meinem Fach wird nicht mal einer ausgelobt. (lacht)

Sie haben Ihr Philosophiestudium in Rom mit summa cum laude abgeschlossen. Welche Philosophen mochten Sie?

Leute wie Schopenhauer und Kierkegaard, die übers Gefühl kamen und dem Existenzialismus den Weg bereitet haben.

Sie wurden schließlich ein Fachmann für Politische Ökonomie. Wie wichtig war das Philosophiestudium für Ihre Karriere?

Sehr wichtig! Es half mir, denken zu lernen, und zugleich überzeugte es mich davon, noch etwas Anderes, empirischer Ausgerichtetes zu studieren.

Ist das, was Sie heute tun, praktischer orientiert, näher am Leben als die Philosophie?

Nein. (lacht) Es ist ebenso weit davon entfernt. Ich sammle und analysiere Daten, um daraus Schlüsse zu ziehen.

Ein Schreiner baut Möbel. Was ist das Produkt Ihrer Arbeit?

Ich produziere Theorien mit einem ziemlich gesicherten Wahrheitsgehalt. Und ich hoffe, dass diese Theorien politisch wirksam werden.

Wie kamen Sie nach Köln?

Ich war Anfang der 2000er schonmal hier und dann 2015 für ein Sabbatical. Meine Vorgänger als Direktoren des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung (MPIfG), Fritz W. Scharpf und Wolfgang Streeck, waren zugleich meine intellektuellen Vorbilder. Für mich ist dieses Institut hier eines der weltweit besten auf seinem Feld.

Und was hielten Sie von der Stadt?

Das ist gar nicht so mein Ding. Mir geht es vor allem um meine Arbeit und die Arbeitsbedingungen.

Wir sind hier mitten in der Südstadt mit ihren zahlreichen italienischen Cafés.

Ja, da bin hin und wieder. Das sind vor allem Sizilianer, ich sehe mir da gern die wichtigen Fußballspiele an. In Köln kann man mit Italienisch problemlos überleben, wenn man kein Deutsch spricht. (lacht)

Espresso oder Latte Macchiato?

Ich habe viele Jahre in den USA verbracht und bestelle mir seitdem gern einen Americano. Aber letztlich ist mir das egal.

Welchen Einfluss hatte Corona auf Ihr Leben und Ihre Arbeit?

Ich schätze die Leute hier im Haus sehr, die Wissenschaftler wie die Mitarbeiter. Während der Pandemie bin ich kaum vor die Tür gekommen. Es fühlte sich an wie Hausarrest, und ich bin froh, wieder hier arbeiten zu dürfen.

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Wie erkennen Sie den zukünftigen Spitzenwissenschaftler unter Ihren Studenten?

Er oder sie muss gern arbeiten, innerlich motiviert sein und Ausdauer haben. Außerdem muss er/sie kreativ sein, nach dem Originellen suchen, anstatt nur zu tun, was man ihm/ihr sagt.

Sie betonen in Interviews häufig den empirischen Anteil Ihrer Arbeit.

Weil er überaus wichtig ist. Als Wissenschaftler müssen Sie absolut sicher sein, dass Ihre Veröffentlichungen gesichert und plausibel sind. Seine Hausaufgaben macht man nur richtig auf der Basis von gründlicher empirischer Recherche. Dafür benötigt man natürlich ein gewisses Budget.

Das MPIfG ist gut ausgestattet?

Oh ja! Wenn ich etwa eine große Umfrage starten will, muss ich nicht wie an Universitäten die nötigen Gelder beantragen. Ich habe sie.

2017 haben Sie das Buch „Trajectories of Neoliberal Transformation: European Industrial Relations since the 1970s“ veröffentlicht. Worum geht es da, kurz gesagt?

Allgemein wird behauptet, der anglo-amerikanische Markt sei neoliberal, der deutsche hingegen eher sozial orientiert. In meinem Buch stelle ich dar, dass sich diese vermeintlich verschiedenen Systeme viel ähnlicher geworden sind, als man denkt – etwa bei den Arbeitslöhnen. Die institutionellen Formen bleiben verschieden, aber sie führen letztlich zu den selben Ergebnissen.

Sie betonen häufiger, der Euro sei keine gute Idee gewesen. Wieso?

Die Wirtschaftssysteme der europäischen Länder sind sehr unterschiedlich. Für Italien war der Euro tatsächlich desaströs. Die Möglichkeit, höhere Inflation zu korrigieren, ging damit verloren. Bei nur einer Währung neigen Länder mit höherer Inflation dazu, den Wettbewerb zu verlieren.

Und mit der Lira wäre das anders gewesen?

Schwer zu sagen, aber auf jeden Fall stand es damals besser um die italienische Wirtschaft.

Sollte Italien die Eurozone und die EU verlassen?

Wenn man für den Austritt von den anderen Mitgliedern nicht bestraft würde, das heißt, wenn der Rückzug verhandelt werden könnte, wäre das eine Möglichkeit. Wenn dann aber die Türen zugehen und Zölle erhoben werden, ist das etwas ganz Anderes. Letztendlich kann ich diese Frage nicht beantworten.

Ist der Brexit für Sie als Wissenschaftler ein spannendes Experiment oder eine Katastrophe für Europa?

Der Brexit ist zunächst einmal ein Zeichen dafür, das etwas nicht stimmt mit Europa. Wie es sich für Großbritannien entwickeln wird, kann niemand sagen. Aber dass der Austritt sofort in die Katastrophe münde, wie viele vorhersagten, hat sich bisher nicht bewahrheitet.

Und was stimmt nicht mit Europa?

Der Brexit sollte allen klarmachen, dass man ein vereinigtes Europa nicht nur auf ökonomischen Pfeilern bauen kann. Dieser europäische Binnenmarkt macht die Gebildeten und Reichen reicher. Aber die einfachen Leute profitieren nicht davon. Deshalb haben in England vor allem Menschen aus der Unterschicht für den Brexit gestimmt. Die haben sich gesagt: Ausländer haben unsere Jobs genommen, die EU hilft uns nicht, wir wollen unser Land zurück. Ob das stimmt oder nicht.

Wenn Sie der Diktator der EU wären: Was würden Sie als Erstes tun?

Ich würde ein Social Safety Net anlegen, das zum Beispiel einen europaweiten Mindestlohn und eine entsprechende Arbeitslosenversicherung garantiert. Man muss mit der Europapolitik das Alltagsleben der Menschen erreichen, sonst klappt das nicht.

Dieses Jahr sind Bundestagswahlen. Welche deutsche Partei ist in Ihren Augen am besten für Europa?

Ich denke, die traditionelle Linke denkt am ehesten in diesen Kategorien. Dazu gehört die SPD, aber die Linke ist – zumindest von ihrem Programm her – noch sozialer orientiert. Allerdings besteht oft ein Unterschied zwischen dem Parteiprogramm und dem, was die Wähler wünschen.

Sie sind seit 2018 im Amt und lernen seitdem Deutsch. Dennoch haben wir dieses Interview auf Englisch geführt.

Die deutsche Grammatik ist nicht mein Problem. Die mag ich sogar, weil sie so logisch aufgebaut ist.

Aber?

Die größte Hürde ist das Vokabular. Ich habe Griechisch und Latein studiert, spreche neben dem Italienischen und Englischen fließend Französisch und kann Spanisch. Für romanische Vokabeln findet man immer ein lateinisches oder italienisches Vorbild zum Ableiten. Aber im Deutschen ist das leider nicht so. Da muss ich jedes Wort regelrecht auswendig lernen. (lacht)

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