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Freigelassener berichtetEin Jahr nach dem Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen

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ARCHIV - 17.07.2025, Berlin: German Moyzhes, Geschäftsführer der Synagoge an der Berliner Brunnenstraße, steht in der Synagoge. German Moyzhes war am 1. August 2024 gemeinsam mit weiteren Gefangenen gegen den sogenannten «Tiergartenmörder» ausgetauscht worden. (zu dpa: «Nach Hause, ins Exil: Ein Jahr nach dem Gefangenenaustausch») Foto: Sven Käuler/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

German Moyzhes, Geschäftsführer der Synagoge an der Berliner Brunnenstraße, steht in der Synagoge. (Archivfoto)

2024 fand ein großer Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen statt. Wie ein Freigelassener neu angefangen hat.

Für German Moyzhes sind es endlose Tage der Ungewissheit im Juli 2024. An einem Montag verlegt ihn die russische Gefängnisleitung unvermittelt in eine Isolationszelle. „Ich war allein und völlig im Unklaren“, sagt der Deutsch-Russe. Am folgenden Donnerstag dann weist man ihn an, seine Sachen zu packen und am Gefängnis in einen Bus zu steigen. „Also wenn die mir gesagt hätten: „Du wirst jetzt zum Mond fliegen“, hätte ich das auch nie ausgeschlossen“, erinnert sich Moyzhes. „Man ist ja völlig macht- und rechtlos.“

Tatsächlich ist der Jurist an jenem 1. August vor einem Jahr auf dem Weg zum vielleicht spektakulärsten Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen seit dem Kalten Krieg. Moskau bekommt dabei den sogenannten Tiergartenmörder Wadim Krassikow aus deutscher Haft frei, dazu neun weitere Leute. Dafür lassen Russland und Belarus 16 Häftlinge ausreisen, darunter US-Reporter Evan Gershkovich und bekannte Dissidenten wie Wladimir Kara-Mursa und Ilja Jaschin. Und eben German Moyzhes, ein bis dahin weithin unbekannter Aktivist mit deutscher und russischer Staatsbürgerschaft.

Menschenleben vs. gerechte Strafe

Die deutsche Öffentlichkeit weiß damals von diesem Deal wohl noch weniger als die Betroffenen. Wie der „Spiegel“ später rekonstruiert, sind dem Austausch jahrelange Verhandlungen zwischen Berlin, Washington und Moskau vorausgegangen. Lange zögert die Ampel-Regierung, den zu lebenslanger Haft verurteilten Krassikow vorzeitig ziehen zu lassen. Der russische Agent hat nach Feststellung des Berliner Kammergerichts 2019 im Kleinen Tiergarten in Berlin einen Georgier tschetschenischer Abstammung heimtückisch erschossen.

Es sei die schwerste Entscheidung seiner Amtszeit gewesen, erklärt der damalige Justizminister Marco Buschmann (FDP) jetzt auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. „Denn es ging um die Abwägung zweier bedeutender Rechtsgüter: Menschenleben einerseits und die gerechte Strafe für einen Mörder andererseits.“ Es ist an Buschmann, den Generalbundesanwalt anzuweisen, den Vollzug von Krassikows Strafe auszusetzen und ihn abzuschieben.

Laut „Spiegel“ wird zeitweise erwogen, im Gegenzug die Freilassung des wichtigsten russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny zu verlangen. Nawalnys Tod im Februar 2024 bringt die Verhandlungen jedoch ins Stocken.

Jahrelang auf dem Radar der russischen Behörden

Moyzhes vermutet, dass er im Frühjahr 2024 als zusätzliche „Geisel“ für diesen Deal gebraucht wird. Der heute 40-Jährige erzählt seine Geschichte so: Er wird in Russland geboren, wandert als Kind mit seiner jüdischen Familie nach Deutschland aus, macht Abitur und Studium im Rheinland, dann zieht es ihn zurück nach St. Petersburg. Er arbeitet für ein Büro zur Beantragung von EU-Visa für Geschäftsleute, freundet sich mit Diplomaten an, wird als Aktivist für Fahrradwege bekannt. Wegen seiner Auslandskontakte ist er auf dem Radar der russischen Behörden. Man verdächtigt ihn als Spion.

ARCHIV - 14.05.2025, Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: Gäste, unter ihnen der Jurist German Moyzhes (2.v.r), nehmen an einer Feierstunde anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der deutsch-israelischen Beziehungen teil. (zu dpa: «Nach Hause, ins Exil: Ein Jahr nach dem Gefangenenaustausch») Foto: David Young/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Gäste, unter ihnen der Jurist German Moyzhes, nehmen an einer Feierstunde anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der deutsch-israelischen Beziehungen teil. (Archivfoto)

„Das heißt, ich bin mehrere Jahre beobachtet worden“, sagt Moyzhes. „Die Festnahme war allerdings, denke ich, schon gezielt auf diesen Austausch, an dem die russische Seite sehr interessiert war.“ Der Vorwurf: Landesverrat. Die mögliche Strafe: 20 Jahre Haft. Diese potenziell hohe Strafe, sein deutscher Pass und die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft machten ihn „attraktiv“, so schätzt er es selbst ein: Russland durfte annehmen, dass sich Deutschland um seine Freilassung bemühen würde.

Ein Flug nach Ankara

Moyzhes rechnet damals allerdings mit einem jahrelangen Vorlauf. Prozess, Verurteilung, Verhandlungen. Dass er schon nach zwei Monaten Haft mit bekannten politischen Häftlingen in einem Flieger in die Freiheit sitzen soll, kommt ihm unwahrscheinlich vor. „Die Sorge war schon da, dass, bevor wir nicht tatsächlich ausgetauscht werden, alles noch passieren kann“, sagt er.

Erst nach dem Start des russischen Flugzeugs ist das Ziel klar: Ankara. Dort nehmen türkische und westliche Beamte die 16 Ausgetauschten in Empfang, während Krassikow und seine Mitstreiter zum Rückflug in die russische Maschine steigen. In Ankara „gab es Essen, wir konnten telefonieren und dann wurde gesagt, dass wir nach Köln/Bonn fliegen“, erinnert sich Moyzhes.

„Die richtige Entscheidung“

Auf dem militärischen Teil des Flughafens nimmt der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz die Ausgetauschten persönlich in Empfang. Anschließend liefert der SPD-Politiker der verblüfften Öffentlichkeit erste offizielle Informationen. „Das ist eine Operation, die nur gelingen konnte durch intensive Kooperation mit vielen Ländern in Europa und ganz besonders den Vereinigten Staaten von Amerika über eine ganz lange Zeit“, sagt Scholz. „Dass das so vertraulich, so präzise und so konstruktiv gelungen ist, das ist etwas, wofür ich sehr dankbar bin.“

HANDOUT - 01.08.2024, Nordrhein-Westfalen, Köln: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) empfängt die frei gelassenen Personen, die mit einem Flugzeug nach dem Gefangenenaustausch mit Russland auf dem militärischen Teil des Flughafen Köln/Bonn ankommen.  (zu dpa: «Nach Hause, ins Exil: Ein Jahr nach dem Gefangenenaustausch») Foto: Marvin Ibo Güngör/Bundesregierung/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz empfängt die frei gelassenen Personen, die mit einem Flugzeug nach dem Gefangenenaustausch mit Russland auf dem militärischen Teil des Flughafen Köln/Bonn ankommen. (Archivfoto)

Zugleich ahnt der Kanzler, dass der Vorgang Fragen aufwirft. „Ich glaube, dass das eine richtige Entscheidung ist“, rechtfertigt er sich. „Und wenn man da irgendwelche Zweifel hatte, dann verliert man die nach dem Gespräch mit denjenigen, die jetzt in Freiheit sind.“

So sieht es ein Jahr später auch Ex-Justizminister Buschmann. „Die Entscheidung hat dafür gesorgt, dass mit Wladimir Kara-Mursa die vage Hoffnung auf ein demokratisches Russland der Zukunft weiterhin lebt“, schreibt der FDP-Politiker der dpa in einer Mail. „Mit jeder russischen Drohne, die in der Ukraine Menschen tötet, wird diese Hoffnung noch wichtiger.“

Erst einmal schlafen

Und Moyzhes? Der groß gewachsene Mann mit dem Dreitagebart und der Kippa hat gerade seine Stelle als neuer Geschäftsführer der orthodoxen Synagoge an der Berliner Brunnenstraße angetreten – ein beruflicher Neuanfang nach einigen Monaten mit Reisen nach Israel und ehrenamtlicher Arbeit. Zum Jahrestag seiner Freilassung will er mit Mitstreitern in Köln daran erinnern. „Für alle, die in Russland und Belarus immer noch in Haft sind“, heißt es in der Einladung der Gruppe Zukunft Memorial.

In den ersten Tagen in Freiheit im August 2024 wohnt Moyzhes zunächst bei Kölner Freunden, oder besser gesagt: Er schläft. Fast rund um die Uhr. Da ist die Erleichterung, nicht mehr in einer zwei mal vier Meter großen Zelle zu hocken. Die Ungewissheit ist endlich vorbei. Aber er denkt viel an St. Petersburg, an seine Angehörigen dort. Er ist frei. Doch er kann nicht zurück.

Russland sei seine erste Heimat und Deutschland die zweite, sagt Moyzhes. Seit seiner Rückkehr sehe er hier viel mehr als früher die schönen Seiten. Und trotzdem: „Ich fühle mich schon irgendwo im Exil.“ Es bleibe die Hoffnung, dass sich in Russland etwas ändern wird. „Und dass man wieder zurückkann.“ (dpa)