- Kanzler und Sozialpartner stimmen die Menschen in Deutschland auf eine lange Krise ein. Gemeinsam wollen sie das Land vor Verwerfungen bewahren.
- Die Folgewirkungen von Russlands Krieg drohen immer bedrohlicher zu werden
Bundesregierung und Sozialpartner wollen im Schulterschluss einen drohenden Abschwung in Deutschland verhindern. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schwor die Bevölkerung auf eine lang anhaltende Krise ein, die es gemeinsam anzupacken gelte. Das Land stehe vor „historischen Herausforderungen“, sagte er nach dem Auftakt der sogenannten Konzertierten Aktion am Montag im Kanzleramt in Berlin. Wichtig sei ihm die Botschaft: „Wir stehen zusammen.“
Scholz verwies auf Russlands Krieg in der Ukraine und die durch die Pandemie gestörten Lieferketten – die wesentlichen Treiber für die hohe Inflation und die steigenden Preise. Generelle Unsicherheit sei die Folge. Diese Lage werde sich auf absehbare Zeit wohl nicht ändern, betonte der Bundeskanzler. Im Rahmen der Konzertierten Aktion soll es nun regelmäßige Treffen geben, um in den kommenden Wochen Lösungen für die Krise zu entwickeln. Ergebnisse des von Scholz initiierten Dialogs mit den Sozialpartnern soll es dann im Herbst geben.
Arbeitgeber und DGB in Sorge
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sagte: „Vor uns liegen schwierige Jahre.“ Deutschland stehe vor der härtesten wirtschafts- und sozialpolitischen Krise seit der Wiedervereinigung. Diese Krise könne nur gemeinsam bewältigt werden, appellierte Dulger. „Ein stetiges Wirtschaftswachstum, wie wir es vor Corona und dem Ukraine-Krieg erlebt haben, ist keine Selbstverständlichkeit mehr.“ Dulger sagte, das Treffen im Kanzleramt habe einen „Beitrag dazu geleistet, den gesellschaftlichen Frieden zu wahren“.
Yasmin Fahimi, die neue Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), betonte nach dem Treffen: „Es geht um die Perspektive 2023, und es geht allem voran darum, jetzt alles zu unternehmen, um eine Rezession zu verhindern, Standorte zu stabilisieren, Wertschöpfungsketten zu erhalten und Beschäftigung zu sichern.“
Inflation nicht lohngetrieben
Zum Auftakt der konzertierten Aktion sei es darum gegangen, ein „gemeinsames Verständnis für die Lage zu entwickeln“, in dem sich das Land befinde, betonte Kanzler Scholz. In den kommenden Wochen werde es dann darum gehen, „Instrumente zu entwickeln und Wege zu finden, wie wir auf diese historischen Herausforderungen reagieren werden“.
Entsprechend stellten Fahimi und Dulger fest, dass die Inflation derzeit nicht lohngetrieben sei. Die Tarifpartner könnten einen Teil der Inflation für die Beschäftigten auffangen. Ohnehin seien Lohnverhandlungen ausschließlich den Tarifparteien vorbehalten. „Das passiert nicht im Kanzleramt“, betonte Dulger. Ähnliche Mahnungen waren im Vorfeld auch von Gewerkschaften gekommen. Die Politik könne aber dafür sorgen, dass von Lohnerhöhungen letztlich mehr im Portemonnaie bleibe, so der Arbeitgeber-Chef.
„Aktuell sehen wir die Inflationstreiber auf der Angebotsseite: Energiekosten, Rohstoffknappheit, fehlende Vorprodukte durch unterbrochene Lieferketten“, sagte Dulger. Energiesteuern und Netzentgelte könnten gute Hebel sein, um steigende Energiepreise in den Griff zu bekommen.
Unterschiedliche Akzente
Fahimi lobte die Wirkungen der bisherigen Entlastungspakete im Volumen von 30 Milliarden Euro. Ein durchschnittlicher Arbeitnehmerhaushalt wird demnach um 1000 Euro entlastet. „Die Belastungen für die Privathaushalte gehen trotzdem deutlich darüber hinaus.“ Im Vorfeld hatte Fahimi einen Energiepreisdeckel gefordert.
Dulger betonte, die Politik könne durch eine Absenkung von Steuern und Sozialabgaben dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger „mehr Netto vom Brutto“ bekämen. Die Arbeitgeber hätten zudem eine Beseitigung der sogenannten kalten Progression bei den Steuern vorgeschlagen. Die Aufgabe der Arbeitgeber sei es, Wirtschaft und Arbeitsmarkt stabil zu halten. „Das ist an sich schon eine Herkulesaufgabe“, sagte Dulger. „In den Unternehmen wissen wir aktuell nicht, welches Feuer wir zuerst austreten sollen.“
So soll es weitergehen
Scholz sprach von einem „guten Auftakt“ und bekräftigte, dass es nun derartige Treffen in regelmäßigen Abständen geben solle. Ausgetretene Pfade müssten verlassen werden. Es brauche einen „Geist der Gemeinsamkeit“. Laut einem Regierungssprecher soll es im Herbst Ergebnisse geben.
Kritik an fehlenden Ergebnissen
Konkrete Ergebnisse waren am Montag zwar ohnehin nicht erwartet worden. Die deutschen Familienunternehmen kritisierten trotzdem, dass es zum Start der Konzertierten Aktion noch keine Beschlüsse gab. Angesichts der hohen Inflation und der Gaskrise „bleibt keine Zeit“ für ergebnislose Auftaktgespräche, erklärte der Verband der Familienunternehmer. Er warnte vor zu hohen Lohnforderungen – stattdessen brauche es die Abschaffung der kalten Progression und eine Deckelung der Lohnzusatzkosten.
Nicht zufrieden mit dem Gesamtkonstrukt ist der Bundesverband Mittelständische Wirtschaft. Geschäftsführer Markus Jerger sagte bei RTL, nötig sei ein Gesellschaftsgipfel, bei dem auch Logistiker, Produzenten und Mittelstand dabei seien.
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Auch der CDU-Wirtschaftsrat kritisierte in der „Rheinischen Post“, der „Inflationsgipfel“ gehe „am Kernproblem vorbei“. Wichtig seien zielgenaue Hilfen für wirklich Bedürftige. „Die Linderung der drückenden Steuern- und Abgabenlast ist oberste staatliche Pflicht und viel nachhaltiger als die Beeinflussung der Tarifpartner.“
Einmalzahlung und Umverteilung
Wenig Begeisterung hatte es bei den Gewerkschaften ausgelöst, als berichtet wurde, Scholz wolle die Beschäftigten mit einer Einmalzahlung entlasten. Die Unternehmen sollten die abgabenbefreit leisten. Die Gewerkschaften sollten Lohnzurückhaltung üben. Verdi-Chef Frank Werneke hatte das bereits ausgeschlossen. Doch am Wochenende wies Scholz die Berichte zurück. Die Grünen pochten derweil auf Entlastungen von Bedürftigen und Geringverdienenden. Die Sozialverbände forderten ein drittes Entlastungspaket mit einer Konzentration auf Rentner und Einkommensschwache.
FDP gegen höhere Steuern
Finanzminister Christian Lindner lehnt mehr Schulden und höhere Steuern kategorisch ab. Dies „wäre toxisch und ein Verarmungsprogramm“, sagte der FDP-Chef. Auch kräftige Erhöhungen der Staatsausgaben kommen für ihn nicht in Frage. „Ein zentraler Beitrag des Staates ist, durch solide Finanzen zusätzlichen Preisdruck zu vermeiden.“ Der Staat müsse die Ursachen der Inflation bekämpfen. „Zugleich sollten wir preistreibende Subventionen reduzieren und alles tun für günstigere Energie.“
Weitere Vorschläge
Das von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vorgeschlagene soziale Klimageld dürfte bei der Konzertierten Aktion wieder auf den Tisch kommen. Es soll einmal im Jahr an Alleinstehende, die weniger als 4000 Euro brutto im Monat verdienen, und für Verheiratete mit zusammen weniger als 8000 Euro gezahlt werden. Der CDU-Sozialflügel fordert eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel. Die Linke-Vorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan verlangten in der „SZ“ einen Preisdeckel für Grundnahrungsmittel. (dpa/mit afp)
Historie: Die erste „Konzertierte Aktion“
Vor dem Hintergrund der ersten schweren Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik versammelte der damalige Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD/kleines Foto) im Februar 1967 führende Vertreter von Bundesregierung, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften an einem „Tisch der gesellschaftlichen Vernunft“. Eine sogenannte konzertierte Aktion – gemeint waren „aufeinander abgestimmte“ Schritte aller Beteiligten – sollte die ökonomische Wende bringen.
Vor allem sollten Gewerkschaften und Unternehmerverbände Lohnerhöhungen moderat und damit gesamtwirtschaftlich vertretbar vereinbaren, um den Rückgang der Konjunktur aufzuhalten. Denn das „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegsjahre war vorbei: Jährliche Wachstumsraten um die acht Prozent und Vollbeschäftigung gehörten der Vergangenheit an. Spätestens 1966 drehte sich die Entwicklung, im Folgejahr 1967 sank das Bruttoinlandsprodukt, und die Arbeitslosigkeit verdreifachte sich fast auf 2,1 Prozent.
Die Sitzungen der Konzertierten Aktion, die sich drei- bis viermal im Jahr traf, wurden von Journalisten umlagert wie Tarifverhandlungen. Doch schon bald knirschte es hinter den Kulissen. Mit seiner Idee, Lohnleitlinien einzuführen, konnte sich SPD-Minister Schiller gegen die Gewerkschaften nicht durchsetzen. Die Arbeitgeber sahen in der gemeinsamen Runde außerdem ein Abwehrinstrument gegen die aus ihrer Sicht überzogenen Gewerkschaftsforderungen.
Die Arbeitnehmer hielten indes von Zurückhaltung nur wenig. Angesichts der seit 1968 wieder boomenden Wirtschaft drängten die Gewerkschaftsmitglieder bei stagnierenden Reallöhnen und steigenden Unternehmensgewinnen auf eine offensivere Lohnpolitik. Zum endgültigen Bruch der Konzertierten Aktion kam es aber erst 1977, als der DGB der insgesamt 40. Sitzung fernblieb, nachdem die Arbeitgeber wegen des neuen Mitbestimmungsgesetzes vor das Bundesverfassungsgericht gezogen waren. (dpa)