Vor zehn Jahren öffnete Angela Merkel die Grenzen für Geflüchtete. Die AfD stand damals kurz vor dem Aus - heute ist sie zweitstärkste Kraft. Eine Analyse über den Aufstieg einer radikalen Partei.
„Wir schaffen das“ als WendepunktWie die Flüchtlingskrise die AfD stark machte

Aufsteller mit dem Schriftzug „Alternative für Deutschland“ und dem Logo der AfD.
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Europa im Spätsommer 2015. Tausende Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und dem Irak harren in Budapest aus. Sie wollen weiter nach Westen ziehen, aber die ungarischen Behörden halten sie zurück. Anfang September entscheidet die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Menschen nach Deutschland einreisen zu lassen. Innerhalb weniger Tage erreichen Zehntausende Schutzsuchende die Bundesrepublik.
Die Ankommenden, mit schweren Rucksäcken bepackt, mit Babys auf dem Arm und Kindern an den Händen, werden am Münchner Hauptbahnhof von den Massen jubelnd in Empfang genommen. Bilder für die Geschichtsbücher. „Wir schaffen das“, hatte Merkel bereits wenige Tage zuvor gesagt, auf einer Pressekonferenz in Berlin. Drei Wörter, fast beiläufig fallen sie, die zum Symbol ihrer Flüchtlingspolitik werden.
Zur gleichen Zeit sieht es nicht gut aus für die AfD. Zwei Jahre nach Gründung droht die Partei in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. In den Umfragen steht sie bei drei Prozent, chaotische Wochen liegen hinter ihr. Auf dem Bundesparteitag in Essen kurz zuvor wird der Vorsitzende Bernd Lucke von der eigenen Basis gedemütigt. Der Parteigründer hatte einen letzten Versuch unternommen, um die Organisation auf ihren ursprünglichen eurokritischen Kurs zurückzuholen. Vergeblich.
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Von der Euro- zur Migrationskritik: Die AfD findet ihr Thema
Den offenen Machtkampf um den Parteivorsitz verliert Lucke gegen Frauke Petry. Der 4. Juli 2015 wird so zu einem Wendepunkt in der Geschichte der AfD. Nun dominieren migrations- und islamkritische Positionen die Programmatik. Mit der sogenannten Flüchtlingskrise, die auf Deutschland zukommt, findet die Partei ihr Thema.
Heute, im Spätsommer 2025, ist die AfD im Umfragehoch, zweitstärkste Kraft in Deutschland, mit 151 Abgeordneten im Bundestag vertreten. Und sie greift nach der Macht. Nach den Landtagswahlen im kommenden Jahr will sie erstmals einen Ministerpräsidenten stellen. In Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sind die Chancen darauf nicht aussichtslos. Vor zehn Jahren noch am Boden hat diese radikale Partei einen enormen Aufstieg hinter sich. Inwiefern hat Merkels Entscheidung im September 2015 die AfD starkgemacht?
Forscherin: Das Thema Migration ist ein Geschenk für populistische Parteien
In einer kürzlich ausgestrahlten ZDF-Doku wertet die Migrationsforscherin Victoria Rietig Migration als „ein Geschenk“ für populistische Parteien: „Weil es ein Spaltungspotenzial in der Gesellschaft hat und dadurch die Möglichkeit gibt, neue Wähler zu gewinnen.“ Nach dem berühmten Satz der Kanzlerin vor zehn Jahren dauert es nicht lange, bis die AfD dieses Potenzial erkennt. Sie trifft einen Nerv, denn nicht jeder teilt die Willkommenskultur.
Im Rahmen der „Herbstoffensive 2015“ veranstaltet die AfD bundesweit Kundgebungen und Demonstrationen, gegen das „Asylchaos“ und die „unkontrollierte Einwanderung“. Insbesondere in Ostdeutschland ziehen die Proteste mehrere tausend Teilnehmer an. Die Stimmung ist aufgeheizt. „Lügenpresse!“, „Volksverräter“, „Merkel muss weg!“ – das ist der Soundtrack der Offensive.
In den Umfragen klettert die AfD. Im Dezember liegt sie bei über zehn Prozent, erstmals ist sie drittstärkste Kraft im Land. „Natürlich verdanken wir unseren Wiederaufstieg in erster Linie der Flüchtlingskrise“, sagt ihr Vizevorsitzender Alexander Gauland.
Die Kölner Silvesternacht als Wendepunkt der Stimmung
Dann passiert etwas, das das Land im Mark erschüttert. Auf der Kölner Domplatte werden in der Silvesternacht 2015/16 hunderte Frauen Opfer sexueller Straftaten. Unter den Tatverdächtigen sind Deutsche, Iraker, Syrer. Ein Großteil der Beschuldigten stammt aber aus Nordafrika. Der Vorfall wirft einen Schatten auf die Einwanderungspolitik. Die Willkommenskultur schlägt bei vielen Menschen zunehmend in Skepsis und Misstrauen um, gegenüber Geflüchteten, gegenüber der Bundesregierung.
Und die AfD? Sie instrumentalisiert die Übergriffe, um daraus Kapital zu schlagen: „Merkel ist schuld an Attacken des Einwanderer-Mobs auf Frauen in Köln und anderen deutschen Städten“, schreibt der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke auf Facebook. Und Parteichefin Frauke Petry behauptet: „Massenhafter Missbrauch in Köln erinnert an rechtlose Zustände zum Kriegsende.“
Massive Angriffe auf die Kanzlerin, schiefe historische Vergleiche, Vorurteile und Häme für den politischen Gegner. Doch das schadet der Partei keineswegs, eher schärft es ihr Profil und hebt sie von der Konkurrenz ab. Viele, die mit den etablierten Parteien unzufrieden sind oder den Migrationskurs der Bundesregierung ablehnen, wenden sich nun der AfD zu.
Experten sehen komplexe Gründe für den AfD-Erfolg
2016 verabschiedet die Partei zudem ihr erstes Grundsatzprogramm. Einwanderung und die Warnung vor einer angeblichen Islamisierung werden zu zentralen Themen. Bei allen fünf Landtagswahlen im selben Jahr trumpft sie auf, erzielt durchweg zweistellige Ergebnisse, in Ost wie West. Ein Jahr später gelingt ihr der Einzug in den Bundestag, wo sie sofort größte Oppositionskraft wird. Spätestens im September 2017 ist klar: Die AfD hat sich etabliert.
Marcel Lewandowsky forscht an der Universität Mainz zu Populismus, Demokratie und Parteien. Die Migrationspolitik 2015/16 habe die AfD nachhaltig beflügelt, sagt er. Für den Politologen war das Öffnen der Grenzen im September 2015 als singuläres Ereignis allerdings weniger ausschlaggebend. „Natürlich haben die hohen Flüchtlingszahlen auch zu Problemen geführt“, sagt Lewandowsky.
Die Kommunen waren überlastet, das Bundesamt für Migration kam mit den Asylanträgen nicht hinterher und dann gab es Vorfälle wie die Kölner Silvesternacht. Die anfängliche „Wir schaffen das“-Euphorie sei deshalb schnell verpufft.
„Die etablierten Parteien und die Medien fingen an, Migration hauptsächlich im Kontext von Krise und Kriminalität zu besprechen“, erklärt Lewandowsky. „Ab 2016 ging es in der öffentlichen Debatte weniger darum, wie Integration gelingen kann, sondern eher um kulturpolitische Positionierungen. Aus der Forschung wissen wir: Ein solcher Diskurs ist der Nährboden für radikal rechte Parteien.“
Es ist ein Punkt, den Wissenschaftler immer wieder betonen: Je restriktiver die anderen Parteien über Migration sprechen, desto stärker profitiert davon die AfD, weil die Leute im Zweifel das Original wählen.
Zwischen Differenzierung und Kontrollverlust: Die Stimmung in der Bevölkerung
In den vergangenen Wochen und Monaten sind mehrere Analysen erschienen, die zeigen, wie die Deutschen zehn Jahre nach Merkels „Wir schaffen das“ auf das Thema Einwanderung blicken. Auffällig ist dabei vor allem: Sorge und Skepsis gegenüber Migration haben spürbar zugenommen.
Die Studie „Die Ängste der Deutschen“ der R+V-Versicherung ist eine wertvolle Quelle, denn sie dokumentiert, wie sich gesellschaftliche Stimmungen über Jahrzehnte verändern. Ein Blick in die Ergebnisse macht deutlich, dass die Furcht vor einer Überforderung durch Geflüchtete seit 2015 Jahr für Jahr zu den größten Sorgen im Land zählt. Das ist verständlich: In den vergangenen zehn Jahren hat Deutschland mehrere Millionen Menschen aufgenommen.
Zieht man aber weitere Untersuchungen hinzu, wird ebenso klar: Ein reines Schwarz-Weiß-Denken über Flucht und Asyl, wie die polarisierten Debatten in den Parlamenten, in Talkshows oder auf Social Media oft vermitteln, herrscht in der Bevölkerung nicht.
Die Organisation „More in Common“ hat im Auftrag der Robert-Bosch-Stiftung 2000 Menschen online befragt. „Viele Menschen denken differenziert über Migration nach – oft tastend, bemüht, verschiedene Werte und Bedürfnisse miteinander in Einklang zu bringen“, heißt es in der Studie. Inzwischen nehmen aber viele den Staat rund um Zuwanderung als „übermäßig bürokratisch, unübersichtlich und dysfunktional wahr“. Die meisten Befragten wünschen sich Maßnahmen, die ein „Gefühl von Kontrolle“ fördern.
Das Erbe von 2015: Unterschiedliche Perspektiven auf den AfD-Erfolg
2015 aber empfanden viele Menschen als Kontrollverlust. Vor diesem Hintergrund erscheint der Aufstieg der AfD in der Retrospektive fast schon zwangsläufig. Denn wer kein Vertrauen hat, dass der Staat mit einer gewaltigen Aufgabe zurechtkommt, wendet sich eher denjenigen zu, die mit vermeintlich einfachen Lösungen auf komplexe Probleme Werbung machen.
In der AfD sind sie heute noch gewissermaßen „dankbar“ für den Flüchtlingssommer. „Merkels Migrationspolitik war der Anstoß für den bundesweiten Erfolg der AfD, das Unterlassen des Grenzschutzes hatte eine wahnsinnige Mobilisierungskraft“, erinnert sich der sozialpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, René Springer. Zugleich ist er sicher: Auch ohne diese Ereignisse wäre die AfD heute erfolgreich. „Die Menschen haben einfach ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber dem Politik-Establishment“, sagt Springer.
Forscher Lewandowsky kommt zu einer anderen Einschätzung. Ohne die hohen Flüchtlingszahlen von damals, ist er überzeugt, stünde die AfD heute nicht da, wo sie steht. „Nach der kurzen Phase der Willkommenskultur haben wir begonnen, Flüchtlingsbewegungen fast ausschließlich als Belastung wahrzunehmen“, sagt Lewandowsky. Sein Fazit: „Diese Verschiebung hat die AfD dauerhaft stark gemacht.“