Interview

Kölner TH-Lehrer mit Handicap
„Wir sind keine „Opfer“, sondern Teil der Gesellschaft“

Lesezeit 6 Minuten
Florian Lintz

Florian Lintz

Florian Lintz ist Lehrkraft an der Technischen Hochschule. Mit Bernd Imgrund sprach er über Beschimpfungen, defekte Rolltreppen und seine Idee einer Parade

Florian Lintz fällt nicht nur wegen seiner Bewegung und Sprechweise auf, sondern auch wegen der schieren Körperhöhe: Der Mann ist 1,97 m groß.

Sie wurden am Institut für Inklusive Bildung NRW zur „Bildungsfachkraft“ ausgebildet. Was haben Sie dort gelernt?

Fachgerecht über meine Defizite zu sprechen und die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung zu vermitteln. Da ging es auch um den sprachlichen Vortrag, um die richtige Körperhaltung und Einstellung: Wir sind keine „Opfer“, sondern Teil der Gesellschaft.

Hier an der Technischen Hochschule Köln geben Sie unter anderem „Lebensweltseminare“.

Ich erkläre dort die spezifischen Probleme von gehandicapten Menschen: in der Familie, der schulischen Bildung, im Alltag. Eine wiederkehrende Frage: Konnten wir selbst entscheiden, wo unser Lebensweg hinführen soll, oder haben das andere über unseren Kopf hinweg getan?

Wie reagieren die Studenten?

Die sind häufig überrascht über die Benachteiligungen für unsereinen. Je nach Förderschwerpunkt können nicht alle Gehandicapten einen anerkannten Abschluss machen. Über diesen Förderschwerpunkt entscheiden die Schülerinnen und Schüler oder deren Eltern jedoch nie selbst.

Sie sind jetzt seit rund zwei Jahren Dozent. Leben Sie einen Traum?

Auf jeden Fall! Ich bin hier nicht der „Hilfsbedürftige“, sondern eine Lehrkraft. Und ich kann zeigen, was ich draufhabe. Andererseits: Warum muss ich mich eigentlich darüber freuen? Warum ist es nicht normal, Menschen mit Beeinträchtigungen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu sehen?

Ihre Stimme ist zwar nicht „normal“, aber Sie sprechen wie gedruckt − ohne hms und ähs.

Meine Stimme ist beeinträchtigt und klingt nasal. Das hat mit der fehlenden Feinmotorik zu tun, die auch das Gaumensegel beeinflusst. Aber meine Ausdrucksweise ist mir schon immer extrem wichtig gewesen. Die Leute, etwa auf Ämtern, merken dadurch, dass ich zwar irgendwie anders, aber nicht „dumm“ bin.

Worin besteht Ihre Beeinträchtigung?

Weil ich bei meiner Geburt nicht genug Sauerstoff bekam, starben Hirnzellen ab. Dadurch habe ich eine Lernschwäche, mein Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht so gut. Hinzu kommt eine Tetraspastik, die sich auf Arme und Beine auswirkt.

Also wird es mit dem Führerschein eher nichts?

Ginge schon. Es müsste allerdings ein umgebauter Automatik-Wagen sein. (lacht)

Wann stoßen Sie an Ihre Grenzen?

Zum Beispiel als ich vor einigen Wochen umgezogen bin − in eine gemeinsame Wohnung mit meiner Freundin. Während der Vorbereitung hatte ich immer wieder Angst, etwas zu vergessen, ich stand unter großem Druck. Normalerweise versuche ich, mir alles aufzuschreiben.

Handicap, Beeinträchtigung, Behinderung: Sie benutzen die Wörter synonym?

„Behindert ist man nicht, behindert wird man“: Florian Lintz im Foyer der TH.

„Behindert ist man nicht, behindert wird man“: Florian Lintz im Foyer der TH.

Ja, aber „Behinderung“ gefällt mir eigentlich nicht. Behindert ist man nicht selbst, sondern wird man durch seine Umgebung. Etwa durch eine nicht rollstuhlgerechte Treppe. Ich wurde dadurch behindert, dass viele nicht an mich geglaubt haben und meine Fähigkeiten nicht erkannt wurden.

Nach Ihrer Geburt sagten die Ärzte, Sie würden nie laufen können.

Ich habe es dann mit drei Jahren doch gelernt. Meine Eltern haben mich immer gefördert.

Sie sind in Soest aufgewachsen. Wurden Sie ausgegrenzt?

Wenn ich Fahrrad fuhr, hieß es: Guckt mal, der Krüppel mit dem Wackellenker. Oder: Hatten deine Eltern in den paar Minuten nichts Besseres zu tun? Hätte dein Vater dich nicht in ein Tuch spritzen können?

Ihr Vater ist nicht klar gekommen mit Ihrem Handicap?

Er hat mich immer mit meinem drei Jahre jüngeren Bruder verglichen: Der kann das schon, warum du nicht, jetzt streng dich doch mal an! Am Fahrrad hatte ich lange Zeit Stützräder, und mein Vater ist nie mit mir zusammen gefahren. Ich denke, er hat sich für mich geschämt.

Hat Sie das eher traurig oder wütend gemacht?

Sowohl als auch. Ich dachte, wenn ich es schaffe, wie mein Bruder zu sein, werde ich vielleicht auch geliebt. Aber das war eben nicht möglich, und ich konnte doch gar nichts dafür.

Ihre Mutter hat Sie unterstützt, sagen Sie. Wie hat sich das Verhältnis zu Bruder und Vater entwickelt?

Mit meinem Bruder verstehe ich mich sehr gut. Zu meinem Vater habe ich keinen Kontakt mehr. Er hat sich nicht einmal nach der Doku über mich im WDR gemeldet.

Hatte der Fernsehbeitrag Auswirkungen auf Ihr Privatleben?

Erst gestern bin ich am Bahnhof angesprochen worden, weil mich jemand aus dem Fernsehen kannte. Mich hat das durchaus gefreut, und meine Freunde sagen, ich könne stolz auf mich sein. Aber ich schaffe das nicht, ich will immer noch mehr erreichen.

Wie erleben Sie als Gehandicapter Köln?

Für mich ist Köln freundlich, für manche Kolleginnen und Kollegen aber weniger. Und vor dummen oder primitiven Menschen ist man nirgendwo gefeit. Auf dem Wiener Platz in Mülheim wurde ich mal zusammengeschlagen, weil ich bin, wie ich bin.

Furchtbar! War das ein einmaliges Erlebnis?

In Dormagen, wo wir jetzt wohnen, bin ich durch den Park gefahren. Da saß eine Gruppe Jugendlicher, hat mich nachgeäfft und ausgelacht. Sie haben sich mir in den Weg gestellt und gegen mein Fahrrad getreten, bis es kaputt war. Solche Situationen tun unheimlich weh, weil ich mich so hilflos fühle und auf meine Behinderung zurückgeworfen werde.

Am liebsten würde man die von der Bank fegen.

Aber man weiß eben heutzutage auch nicht, was die in ihren Taschen haben. Dass du nichts erwidern darfst, dass du alles schlucken musst, ist wirklich schrecklich. Die haben gewonnen, und ich fühlte mich gedemütigt und hatte in dieser Situation noch das Bedürfnis, denen zu beweisen, dass ich nicht so bin, wie sie denken.

Was wäre Ihre erste Amtshandlung als Inklusionsbeauftragter der Stadt Köln?

Alle Bahnen und Busse barrierefrei zu machen. Und alle Haltestellen zu sanieren, wo die Aufzüge und Rolltreppen nicht funktionieren. Im Alltag, in der Planung werden sehr viele Aspekte nicht mitbedacht, die für Behinderte wichtig sind. Denken Sie nur mal an Tischhöhen für Rollstuhlfahrer.

Sie sagen, Inklusion ist erst dann erreicht, wenn wir nicht mehr drüber reden müssen. Also wann?

Wenn zum Beispiel ein Sportverein nicht mehr extra betonen muss, dass er inklusiv ist. Das wird nicht in fünf und nicht in zehn Jahren klappen, aber muss das Ziel sein. Jeder Mensch hat das Recht, am Leben teilzuhaben. Auch Rücksichtnahme sollte selbstverständlich werden − so, wie man in der Bahn für ältere Herrschaften aufsteht.

Als fast 60-Jähriger warte ich darauf, dass zum ersten Mal jemand für mich aufsteht.

(Florian Lintz lacht. Dann erhebt er sich und bietet mir seinen Stuhl an. Wir wechseln die Plätze.) So, das wäre erledigt.

Sie trinken gern auch mal ein Bier, habe ich gelesen. Können Sie trotz Handicap soviel trinken wie ich?

Wie viele schaffen Sie denn?

So zwanzig Kölsch sind drin.

(lacht) Wir müssten uns treffen, um das auszuprobieren. Jedenfalls beeinflussen sich Alkohol und Beeinträchtigung nicht gegenseitig. Klar spreche ich nach mehreren Bieren schlechter als jetzt, aber das kommt nicht von der Spastik, sondern eben vom Kölsch.

Sie haben die schöne Idee geäußert, mal eine CSD-ähnliche Parade für Menschen mit Handicap zu organisieren. Halten Sie zum Abschluss doch mal ein kleines Plädoyer dafür.

Es gibt den „Tag der Begegnung“ im Rheinpark, wo sich alljährlich Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen treffen. Aber das läuft ab wie in einem geschlossenen Raum. Mit einer Parade mitten in der Stadt wären wir sichtbar. Das wäre ein wichtiger Schritt in Sachen Inklusion.

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